Vom kahlen Berg in Norrland fahren wir knappe 800 Kilometer nach Süden, in den nordwestlichsten Zipfel von Dalarna. Und wir werden nass.

Es ist der 20. Juni 2011, früher Nachmittag. Der erste freie Tag auf dieser großen Tour durch Skandinavien. In der Ferne stürzt Wasser senkrecht im Gegenlicht hinab und es rauscht leise; um mich herum nahezu Stille. Nur ein paar weitere Menschen, die dieses Naturschauspiel auch bestaunen wollen.
Ich bin am ersten Höhepunkt meiner langen Skandinavien-Reise im Sommer 2011. Bin ganz im Nordwesten von Dalarna, am Njupeskär, wohl Schwedens höchstem Wasserfall. Dazu aber später mehr.

Die 3 Tage zuvor gingen mit Kilometer-fressen drauf. Von Heidelberg nach Kiel zur Fähre. Anschließend von Göteborg weiter nach Norden mit Zwischenstopp in Karlstad. Knapp 1.500 Kilometer in dieser kurzen Zeit. Das schreit nach etwas Ruhe abseits der Straßen, nach wandern und fotografieren; nach genießen. Und doch habe ich meinen Zwischenstopp im nahegelegenen Örtchen Särna mit Bedacht gewählt, zieht es mich doch oft zu den großen Dingen – den höchsten, längsten, weitesten. Also will ich auch unbedingt zu Schwedens höchstem Wasserfall.

Der Tag beginnt eher durchwachsen. Zuerst erkunde ich Särna. Dazu notiere ich folgendes in meinem Reisebericht von damals:
“Es [ist ein] kleines, feines Dorf zwischen Österdalälven und RV70 [Riksväg/Reichsstraße 70]. Zwei Kirchen, ein TB [Touristenbüro], ein kleiner Ica [Lebensmittelladen], eine Tankstelle, ein paar Häuser – mehr gibt es hier nicht. Nach meiner nicht ganz trockenen, 15°C kühlen, Fuß-Fotorunde futtere ich noch ein bisschen und bereite mich für den folgenden Nachmittagsausflug vor.”

Aber immerhin begrüßt mich Särna im Fjäll. Eine sehr nette Geste.

Särna, "Fjällporten"

Die ältere der beiden Kirchen ist, typisch skandinavisch, komplett aus Holz und mit Schindeln gedeckt.

Särna, Gamla Kyrka (Alte Kirche)

Nach diesem kurzen Spaziergang fahre ich langsam Richtung Nordwesten; ins Niemandsland auf einen großen Parkplatz. Ich packe meine Fotoausrüstung zusammen und ziehe los. Über Holzplanken geht es durch kargen Wald, während das Wetter recht unbeständig ist. Alsbald erspähe ich in der Ferne das senkrechte Wasser. Ich mache einen ersten Fotostopp und experimentiere ein wenig rum. Muss immer wieder pausieren, da andere Touristen unterwegs sind. Bei eben jenem Stopp entsteht auch das Kalendermotiv. Mit maximaler Brennweite von 300 Millimetern und minimaler Verschlusszeit von einer viertausendstel Sekunde (weniger lässt die D90 leider nicht zu) halte ich die kraftvollen Wassermassen im Gegenlicht fest.

Alsbald ziehe ich weiter. Immer dem Rauschen nach. Über zunehmend nasser werdende Holzstege komme ich dem Fall immer näher. Nach ein paar Minuten erreiche ich ein kleines Holzpodest. Endstation! Weiter geht es nicht. Anfangs mag ich ob der vielen Menschen nicht fotografieren, überlege es mir dann aber doch anders. Und bereue es nicht. Die 15 Sekunden des folgenden Bildes zeigen die herabstürzenden Wassermassen als einen Schleier aus feinsten Tröpfchen, umrahmt von großen Gesteinsbrocken und erhellt von der Sonne, die hinter dem Fulufjäll steht.

Njupeskär, Langzeitbelichtung

Gut, aber erzählen kann ich viel. Ohne Selfie geht es nicht. Aber anstatt das Telefon zu zücken und mal eben schnell ein Bild zu machen (was vor 10 Jahren noch nicht so berauschend war), oder einen der vielen Passanten zu fragen, gehe ich das Ganze mit Bedacht an. Das Stativ wird aufgebaut und sorgsam ausgerichtet. Es braucht ein paar Anläufe, ehe ich das für mich perfekte Bild bekomme und das Wasser mir auf den Kopf fällt. 

Njupeskär, Selbstportrait mit Wasser

Die schiere Wucht lässt sich hierbei nur erahnen und wird durch die Perspektive etwas verzerrt. Das Wasser fällt 70 Meter senkrecht nach unten und das sehr geräuschvoll.

Und während ich so knappe 10 Jahre später diese Kalender-Geschichte schreibe werden Erinnerungen wach. Ich beginne dazu ein wenig die Hintergründe zu recherchieren und stoße im schwedischen Wikipedia-Eintrag auf etwas spannendes:
Ist Njupeskär etwa garnicht Schwedens höchster Wasserfall? Dazu hatte ein Fotograf 2014 einen Debattenartikel in der Zeitschrift der schwedischen Touristenvereinigung geschrieben. Er wies dabei darauf hin, dass es viel weiter im Norden nicht einen, nein zwei höhere Wasserfälle gibt; beide einträchtig beieinander. Sie haben es bereits zu einem eigenen Wiki-Eintrag geschafft und werden inoffiziell “Zwillingsfälle”, oder auch “Graf” und “Gräfin” genannt. Eine offizielle Bezeichnung steht noch aus. Als ich das Bild der beiden Fälle sehe muss ich stutzen. Kann es vielleicht sein, dass ich diese auch schon fotografiert habe? Einfach, weil sie mir aufgefallen sind? Es kann sein. Es ist so! Nach kurzem stöbern in meinem Archiv entdecke ich das Beweisfoto. Es entsteht 10 Tage später und 700 Kilometer Luftlinie weiter nördlich am See Akkajaure im Nationalpark Stora Sjöfallet, auf der Rückfahrt von der Fjällsiedlung Ritsem.

Die Zwillingsfälle am Akkajaure

Deren maximale Fallhöhe soll etwa 300 Meter betragen, beim Njupeskär sind es insgesamt “nur” gut 90 Meter. Aber! Interessant ist die freie Fallhöhe und die scheint mir beim Vertreter aus Dalarna um einiges höher zu sein. Die Kandidaten aus Norrland fließen eher den Fels hinab anstatt zu fallen. Atemberaubend ist dieses unerwartete Naturschauspiel allemal und sehenswert sowieso. Ich bin gespannt, wie die Diskussion weitergeht und freue mich, dass mir dieser Zufallstreffer gelang.

Zurück zum “Ruhe-“Tag in Dalarna.
Das Wetter bleibt weiterhin unbeständig. Während ich langsam den Rückweg antrete und dabei über einen kleinen Berg marschiere, sehe ich, wie in der Ferne Regenwolken aufziehen. Ich schaffe es gerade noch trocken zum Auto. Während einer anschließenden Essenspause im nahegelegenen Naturum geht ein starker Platzregen nieder. Auf dem Rückweg zum Auto entdecke ich aber nochetwas. Einen sehr markant geformten Berg. Ich beschließe, diesen unter die Lupe zu nehmen und fahre in den Wintersportort Idre. Von dort hinauf zum Skigebiet und immer weiter bergan. Die Asfaltstraße weicht bald einem Grusväg – der berüchtigten Schotterpiste, die auch über Flatruet führt. Darüber habe ich bereits im März berichtet. Irgendwann ist aber auch diese Straße zuende und ich stehe auf über 1.000 Metern Höhe auf einem kleinen Parkplatz – mitten in einer Rentierherde.
Der erwähnte Berg ist zu Greifen nahe und kaum 5 Kilometer von mir entfernt. Mit gepacktem Rucksack beginne ich den Berg oberhalb des Parkplatzes zu erklimmen. Ich setze mich auf einen kleinen Stein und blicke in die Ferne; lasse alles auf mich wirken. Ich komme mal wieder zur Ruhe. Ein unglaubliches Glücksgefühl überkommt mich. Fühle mich wie der König der Welt. Ich beobachte den Zug der Wolken, das ständige Wechselspiel von Licht und Schatten. Ich fotografiere; versuche die vielen Eindrücke festzuhalten. Die Zeit verfliegt.
Direkt vor mir ist das markante Fjäll – Städjan genannt. Ein kahler, schmaler, langgestreckter Bergrücken.

Nipfjäll, Blick zum Städjan

Damals schreibe ich folgendes über dieses Erlebnis:
“Hier oben angekommen, ist da halb links dieser Steg mit Holzstufen der auf einer Berg führt. Ich kann nicht widerstehen. Wanderschuhe und Stöcke raus; Rucksack mit Kamerageraffel und Futter aufgesetzt. Genau jetzt erwartet mich das nächste Schmankerl. Eine recht große Rentierherde hat es sich auf dem Parkplatz gemütlich gemacht. Sie versüßt mir den Start zu ersten kleineren Wanderung, welche eigentlich nur aus einem kurzen Anstieg besteht. Dieser kommt mir immer länger und steiler vor. Nach gut 10 Minuten erreiche ich einen Stein, der mir als Sitzgelegenheit dient; die letzten paar Meter bergauf lasse ich sein. Pause! Aussicht genießen! Ich bin auf knapp 1.100 Metern, auf dem wahrscheinlichen Dach der gesamten Reise! Es ist zehn nach fünf. Bei Sonnenschein und ein paar Wolken versuche ich meine Stimmung in ein paar Bildern festzuhalten. Das gelingt ganz gut, auch bei der ominösen Fjällkette – Städjan genannt. Vom hiesigen Standort zeigt sich deren schmale Seite, die noch beeindruckender ist. Für das Idrefjäll, ein Wintersportgebiet, gilt dies nicht. Kurz nach halb sechs trete ich den Rückweg an, da sich dicke dunkle Wolken breit machen. Rechtzeitig erreiche ich meinen 4-rädrigen Reisebegleiter. Eine weitere halbe Stunde später beginne ich die Rückfahrt gen Idre.”
Auf dieser Rückfahrt versuche ich Städjan noch etwas näher zu kommen, was aber von mäßigem Erfolg gekrönt ist. Also fahre ich langsam nach Särna zurück. Ein ganz besonderer Ruhetag endet.

Das es mir das schwedische Fjäll angetan hat – ich mich verliebt habe – sollte nun langsam klar sein. Es ist das dritte Gebirgsbild nacheinander und es folgen noch weitere.

Hier die technischen Daten zum Bild:
Datum & Uhrzeit: 20.06.2011, 13:53 Uhr
Kamera: Nikon D90
Objektiv: Tamron 70-300 VC
Brennweite: 300mm
Blende: f/8
Verschlusszeit: 1/4000s
ISO-Wert: 800
In der Nachbearbeitung habe ich mich sehr stark um Farben und Kontraste gekümmert und das Blau des Himmels sichtbar gemacht.

Der Juni führt uns wieder ein Stück nach Norden und wir bleiben am Wasser.

Bis dahin,

— SnusTux|René M. – 01/05-2021

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