Berlin – Hauptstadt Deutschlands, größte Stadt der Republik, Ort der sooft in den Medien präsent ist.
Und eine Stadt, die ich bisher nie richtig kennengelernt habe.

Zeit, das zu ändern. Recht spontan plane ich meinen März-Urlaub um und organisiere mir Reise nach und Unterkunft in Berlin. Viel habe ich vorher gehört und gelesen. Die Stadt ist omnipräsent. Und so fahre ich am 21. März von Mannheim gen Norden. Nach fünf recht entspannten Stunden im ICE erreiche ich die westlichen Ausläufer des Stadtstaates, bald darauf den Hauptbahnhof.
Ein Menschen-Gewirr empfängt mich. Ich stehe in diesem riesigen Gebäude aus Stahl und Glas und bin anfangs etwas orientierungslos; folge der Menschentraube, die sich aus dem Zug ergießt. Und finde mich bald auf der obersten Ebene wieder. Rolltreppe runter. Eine Ebene geschafft! Wo fährt jetzt die S-Bahn? Noch eine Rolltreppe runter und noch eine. Ich stehe im Tiefbahnhof am Gleis, warte. Aus dem Tunnel kommt ein Doppelstock-Zug angerauscht. Einsteigen. Und gleich an der Tür bleiben, habe ich doch nur eine sehr kurze Reise vor mir. Die Türen schließen. Mein Zug rauscht in den nächsten Tunnel. Schon bald kommt die Stationsansage „Potsdamer Platz“ – hier muss ich raus. Rolltreppe hoch, eine weitere und eine letzte. Ich stehe unter einem Glaskasten; schaue mich um, genieße die ersten Züge Berliner Luft. In die Richtung! An einer Dach-ähnlichen Wiese schlendere ich gen Süden Richtung Landwehrkanal. Einer dieser Gebäude-Quader muss mein Hotel sein. Wenig los hier, wo ich doch im pulsierenden Zentrum der Hauptstadt bin. Angekommen! Ein Elch begrüßt mich vor der Hotelpforte. Einchecken und Zimmer begutachten.
Ein großes Bett und Bad mit Wanne, so kann ich es mir gutgehen lassen.

Es ist früher Nachmittag um kurz nach zwei Uhr. Das Wetter ist trüb und doch erstaunlich mild. Was soll ich mit dem restlichen Tag anfangen? Dann werde ich wohl erstmal die typischen touristischen Punkte anpeilen – alle in der Nähe meiner Bleibe. Mit Bus und U-Bahn fahre ich zum Brandenburger Tor. Hier ist schon deutlich mehr los. Viele Touristengruppen lichten sich gegenseitig vor diesem so markanten Bauwerk ab. Ich mache nur wenige Bilder und spaziere durch das Tor, den Blick zur Siegessäule gerichtet. Ein Waldweg führt zum Reichstagsgebäude. An diesem befindet sich das Mahnmal für die, im Nationalsozialismus ermordeten, Sinti und Roma. Erster starker Tobak für heute. Durch ein eisernes Tor gelange ich in eine kleinen Park mit Teich. An einer milch-gläsernen Wand findet sich die Chronologie der systematischen Vernichtung einer ganzen Volksgruppe. Stille. Innehalten. Eine Gruppe Jugendlicher betritt den Park. Auch sie halten inne. Ich verlasse die Anlage bald wieder und strebe dem Reichstagsgebäude zu. In der Ferne ist das Bundeskanzleramt zu erkennen. Das Reichstagsgebäude selbst ist weiträumig abgesperrt und nur per Einlasskontrolle erreichbar. Ich spaziere auf die Wiese gegenüber und mache ein paar weitere Bilder. Durch den grauen Himmel bleibt wenig mit Lichtmalerei. Stattdessen konzentriere ich mich auf Linien und Sichtachsen. Gleiches wiederholt sich vor dem Paul-Löbe-Haus mit seinen Abgeordnetenbüros und auch vor dem abgeriegelten Bundeskanzleramt.
Zurück am Brandenburger Tor spaziere ich gen Süden, an einem weiteren abgeriegelten und gesicherten Gebäude vorbei – die Botschaft der Vereinigten Staaten. In der Ferne entdecke ich mein nächstes Ziel – das Holocaust-Mahnmahl, tausende Betonquader mitten in der Stadt. Auch hier ist eher wenig los, wohl der Tageszeit und dem Wetter geschuldet. Ein Teil der Anlage ist gesperrt. Zwischen den hohen Betonsäulen spielen ein paar Jugendliche Verstecken. So recht kann ich die Enge und die Bedrückung nicht auf mich wirken lassen. Einerseits bin ich platt vom Tag, andererseits ist es viel zu unruhig. An der nächsten Ecke steht eine Tafel mit der Geschichte des NS-Regierungsviertels und den zugehörigen Bunkeranlagen, die nur noch zu wenigen Teilen erhalten sind. Ich bin mitten drin in meiner Geschichtsreise; und bald schon am nächsten Ort derselben. Auf dem Fußweg entdecke ich eine unscheinbare Kupfertafel. Hier verlief also die Mauer – mitten über den Potsdamer Platz. Über die Straße zieht sich das steinerne Band im Asphalt weiter. Der Abend ist hereingebrochen und die Stadt beginnt zu leuchten. Ich bin im Menschengewirr auf dem Potsdamer Platz, um mich herum moderne Wolkenkratzer und mitten auf dem Platz ein Kasten. Eine Nachbildung der allerersten Ampelanlage Berlins aus den 1920-er Jahren. Menschen, Autos, Busse. Auf dem Weg zum Hotel wird es schnell wieder ruhiger.

Diese vielen Eindrücke muss ich erst einmal verarbeiten. Es ist viel, fast zuviel. Ich merke, dass ich in einer richtigen Großstadt bin – dagegen ist Heidelberg ein beschauliches Dorf.

Mittwoch, 22. März, der nächste Tag. Sonne in der Stadt.
Viel habe ich mir für diesen Besuch nicht vorgenommen, Eines aber schon: mit dem Trabi die Stadt erkunden. So begebe ich mich nach dem Frühstück auf einen kleine Fußmarsch zur Zimmerstraße, vorbei an der Mauer und an der Ausstellung „Topografie des Terrors“ über das Wirken des Nationalsozialismus in der der Stadt. Bald erspähe ich die ersten Duroplast-Bomber. Ein paar Minuten warten und schon werden wir begrüßt – eine Gruppe von 9 Menschen, die sich auf das Abenteuer wagen wollen. Vorher noch kurz mit der speziellen Schaltung vertraut machen und schon sitzen wir in unseren Fahrzeugen. Es ist eng, sehr eng. Obwohl mein Sitz schon ganz hinten ist, habe ich Probleme, meine Füße unterzubekommen. Irgendwie finde ich dann doch eine Position. Unter Anleitung werden die Motoren gestartet, und meiner geht recht schnell wieder aus. Das begleitet mich in der kommenden guten Stunde. An den unmöglichsten Stellen verreckt mir der Motor. Mit einem Führungsfahrzeug setzt sich unsere kleine Kolonne in Bewegung. Ein paar amüsante Geschichtchen bekommen wir zu hören, währen wir Unter den Linden langtuckern, später nach Friedrichshain und Kreuzberg. Es ist anstrengend und doch irgendwie schön. So richtig kann ich die Zeit nicht genießen, ist doch um uns herum dichter Verkehr und auf das kleine Auto mit seiner speziellen Bedienung muss ich mich auch konzentrieren. Ab und zu komme ich mächtig ins Schwitzen, wenn mal wieder der Motor ausgeht und ich den Leerlauf zum Starten nicht finde. Irgendwie schaffe ich es doch immer wieder und bin froh, heil wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Zur Belohnung winkt ein Trabi-Führerschein – mit Krach und Ach bestanden.

Ich statte dem nahegelegenen Trabi-Museum einen kleinen Besuch ab und stärke mich. Kurz abschalten, bevor die Touri-Reise weitergeht. Die Friedrichstraße ist voll und um den Checkpoint Charlie tummelt sich eine Menschentraube. Ein paar Sekunden bleiben für ein Foto. Als nächsten Ort habe ich den Gendarmenmarkt ausersehen. Dieser enttäuscht mich leider, da er eine Großbaustelle ist. Ich wusel zur U-Bahn. Mit einem Umstieg erreiche ich die Rückseite des Roten Rathauses.Von hier geht es zum Alexanderplatz. Dit is Berlin!
Ein großstädtischer Platz voller Menschen und unterschiedlichster Verkehrsmittel, ganz im Charme der 60-er und 70-er-Jahre DDR-Architektur. Auch die allseits bekannte Weltzeituhr ist umringt und scheint noch immer ein beliebter Treffpunkt zu sein. Ich kann sie vor dem Fernsehturm in Szene setzen. Unter der Eisenbahnbrücke durch und schon stehe ich vor einem riesigen Etwas aus Beton, Stahl und Glas. Eines der Prachtbauwerke des untergegangenen Staates. In der runden Aussichtsplattform spiegelt sich die Sonne. Ein Besuch kommt für mich nicht in Frage. Zu teuer und die Höhenangst macht sich bemerkbar. Ich umrunde den Fernsehturm und finde mich in einer modernen Anlage zwischen Rotem Rathaus und Marienkirche wieder. Hier ist es schon ruhiger. Im benachbarten Marx-Engels-Forum lege ich eine Pause ein und sauge die geschichtsträchtige Luft der Großstadt in mich ein. Es ist alles so weitläufig und groß. Viele Sichtachsen und in Beziehung stehende Gebäude. An der Spree vorbei mache ich eine kleinen Abstecher ins Nikolaiviertel. Hier wurde in den 80-er Jahren die Kleinteiligkeit des früheren Berliner Stadtkerns mit Mitteln des DDR-Wohnungsbaus zu neuem Leben erweckt. Zwischen den typischen Plattenbauten finden sich einige historisierende Fassaden wieder. Ganz nett hier und doch ein riesiger Kontrast zu den benachbarten, weitläufigen, Vierteln. Das unsägliche Humboldt-Forum – der Neubau des Berliner Stadtschlosses mit historisierenden Fassaden auf dessen früherem Platz und zwischenzeitlich vom „Palast der Republik“ abgelöst – lasse ich rechts liegen und konzentriere mich stattdessen auf das benachbarte, ehemalige Staatsratsgebäude mit seinem Chic aus den 60-er Jahren und dem dort eingebundenen Portal des Stadtschlosses. Auf dessen Balkon soll Karl Liebknecht im November 1918 die Räterepublik ausgerufen haben. Vorbei an der Anlage für den preußischen Großbaumeister Schinkel gelange ich auf den Prachtboulevard Unter den Linden. dieser ist überlaufen, das Brandenburger Tor in der Ferne kaum auszumachen. Links und rechts Zeugnisse schinkelscher Baukunst und verschiedener weiterer Epochen danach. Noch ein kurzer Stopp vor der Humboldt-Universität, bevor ich zu U-Bahn spaziere. Diese bringt mich mit einem Umstieg zurück zum Potsdamer Platz und zu meinem Hotelzimmer.

Was für ein Tag! Meine Füße schmerzen von dem viele Laufen. Nachdem ich die letzten Monate fast nur im Auto zugebracht habe, war dies eine ganz neue und wichtige Erfahrung. Platt verbringe ich den Abend im Bett und plane den nächsten Tag.

Donnerstag, 23. März. Es ist grau.
Passend zum Wetter möchte ich in das Stadtleben eintauchen. Dies gelingt am besten mit einer Fahrt mit der Ostberliner Straßenbahn. Vom Nordbahnhof, mit einem kurzen Zwischenstopp am Hauptbahnhof, geht es durch den Prenzlauer Berg nach Friedrichshain. Überall weitere Zeugnisse der Geschichte. Was mir sofort auffällt sind die vielen bunten Fassaden der Gründerzeithäuser. Eine schöne Abwechslung zu den weit verbreiteten Grau- und Beige-Tönen vieler anderer Städte. Zwischendrin wird es recht voll, was mich allerdings eher weniger stört, möchte ich doch die gesamte Strecke der M10 abfahren. Und so löst sich das Gewimmel am U-Bahnhof Warschauer Straße wieder auf und ich spaziere über selbige ein Stück zurück. Eine breite Allee mit Grünstreifen in der Mitte, gesäumt von Gründerzeithäusern. Zwischendurch ein paar Tropfen aus der grauen, dicken Wolkendecke. Irgendwie kontrastiert das mein Zwischenziel ganz gut. Am Frankfurter Tor erreiche ich die Karl-Marx-Allee und stehe vor dem Sinnbild der frühen DDR-Wohnhausarchitektur. Zwei Kuppeltürmchen säumen endlos erscheinende Häuserblocks, die sich zu beiden Seiten der schnurgeraden Straße zum Horizont ziehen. In dieser Sichtachse findet sich der Fernsehturm. Ich spaziere ein wenig umher und halte die gern „Zuckerbäckerstil“ genannte Architektur fest. Es bedarf wenig um mir vorzustellen, wie noch vor 35-40 Jahren hier große Paraden abgehalten wurden und wie begehrt die Wohnungen in den Blocks gewesen sein müssen. Heute ist es ziemlich leer und wirkt menschenfeindlich. Ich bin fast allein unterwegs. Nach diesem kurzen Abstecher fahre ich mit der Tram zurück zum U-Bahnhof. In der Ferne lugen zwei backsteinerne Türmchen hervor – die Oberbaumbrücke. Auf dem Weg dorthin entdecke ich dann auch recht schnell ein weiteres Stück der Teilung Berlins. Bunt bemalt verläuft die Mauer auf der Nordostseite der Spree gen Zentrum – die East-Side-Gallery. Hier habe sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten viele Künstler verewigt. Kurz verschnaufen und dann zur Oberbaumbrücke. Auch sie trennte einst die Ost- von den Westsektoren der Stadt und wurde nach 1990 wieder aufgebaut. Heute verbindet sie eher die beiden benachbarten Stadtteile, die seit 2001 als einer von zwei Ost-/West-Bezirken existieren: Friedrichshain und Kreuzberg. Zwischen den Backsteintürmchen rauscht recht regelmäßig eine U-Bahn vorbei, neben mir viele Radfahrer und eher wenige Autos. Auch von Fußgängern wird die Brücke rege frequentiert. Die Spree zieht sich fast schnurgerade zum Stadtzentrum mit all seinen Türmen. Vor allem auf der Ostseite im ehemaligen Sperrgebiet stehen viele moderne Hochhäuser. Auf der Kreuzberger Seite begrüßen mich ein Park und die stählernen Stelzen der, als Hochbahn ausgeführten, U-Bahn. Ein paar Schritte weiter und schon bin ich – ohne es zu wissen – im Wrangelkiez. In diesem liegt mein Ziel, die Station Schlesisches Tor. Ein bisschen Kiez-Gefühl kommt auf, als ich die stark mitgenommenen Treppen des Bahnhofes emporsteige. Alles wirkt etwas in die Jahre gekommen. Dazu eher buntes Klientel. Gerade jetzt zeigt sich die Sonne erstmals, hab ich doch meine Fußrunde soeben beendet. Mit der gut gefüllten U-Bahn geht es quer durch Kreuzberg nach Schöneberg zum Nollendorfplatz. Hier wechsle ich von der U3 auf die U2 zum Bahnhof neben meinem Hotel. Es ist früher Nachmittag. Geschafft habe ich einiges, und doch weniger als eigentlich vorgenommen. Eine Bekannte hatte mir Tipps im südlichen Kreuzberg – im Bergmannkiez – gegeben, die ich nun sausen lasse. Stattdessen erstmal ausruhen.
Was mit dem angebrochenen Tag weiter anfangen? Spontan beschließe ich, nach Aussichtspunkten in Berlin zu suchen – abseits des Fernsehturmes. Und ich werde erstaunlich schnell fündig: Um die Ecke befindet sich ein sogenannter „Panoramapunkt“ – etwa 100 Meter hoch und wohl gut abgeschlossen. Von hier soll man einen schönen Rundumblick über Berlin haben. Die Tickets lassen sich online buchen, dazu ein kleines Büchlein über die Geschichte.

So spaziere ich um kurz vor fünf vor zum Potsdamer Platz und zum backsteinernen Hochhaus, dem Kollhoff-Tower. Ticket holen und dann ab zum Aufzug. An diesem begrüßt mich ein netter junger Herr, der mir ein bisschen was erzählt und mich mit dem wohl schnellsten Aufzug Deutschlands binnen weniger Sekunden zur Aussichtsplattform bringt. Wind bläst mir entgegen. Allein bin ich bei weitem nicht. Zwischen Stahlgittern und Backsteinbögen haben es sich viele weitere Besucher gemütlich gemacht, die den Ausblick genießen wollen. Innehalten und orientieren. Ein erster Blick geht über den Tiergarten zum großen Stern. Weiter. Reichstag, Brandenburger Tor, Holocaust-Mahnmahl, Unter den Linden, Fernsehturm. Es ist grau und kontrastlos. Friedrichshain, Kreuzberg, Tempelhof, Schöneberg. Ein paar weitere Treppen hinauf auf die obere Plattform. Noch mehr Wind und etwas offenere Blicke. So recht traue ich mich nicht bis an die Brüstung ran – meine Höhenangst schlägt unvermittelt zu. Schnell ein paar Fotos der City West machen und die Architektur des Hochhauses festhalten und dann schnell wieder hinab. Die Haus-Seite ist mit vielen Informationstafeln zur Geschichte des Potsdamer Platzes gesäumt, die ich mir nur eher sporadisch durchlese, habe ich doch dieses kleine Büchlein gekauft. Gerade will ich den Rückweg antreten, als die Sonne zwischen den Wolken hervorblitzt und die Stadt langsam in ein warmes Abendlicht taucht. Yesss! Endlich stimmungsvolle Bilder! Auf der Leipziger Straße ziehen Autos und Hochhäuser lange Schatten. Bald wird auch der Turm des Doms und der Fernsehturm von der Sonne angestrahlt. Das muss ich festhalten, gerade mit den dicken Wolken als Hintergrund. Kurz darauf ist das Lichtspiel auch schon wieder vorbei und ich begebe mich nun wirklich zurück zum Aufzug. Ein Hochgefühl überkommt mich. Was für ein Erlebnis! So schnell wie ich oben war, bin ich wieder unten. Mit einem leckeren Burger im Gepäck trotte ich langsam zurück zum Hotel. Das muss ich sacken lassen. Mein Hauptstadt-Besuch hat sich schon jetzt gelohnt. Für den nächsten Tag nehme ich mir noch weniger vor, hab ja schließlich Urlaub!

Freitag, 24. März. Es ist schon wieder grau und soll wohl auch noch regnen.
Trotzdem will ich noch zur City West, rund um Ku-Damm und Gedächtniskirche. Am Abend zuvor hatte ich entdeckt, dass sich ganz in der Nähe davon die Botschaften der Nordeuropäischen Länder befinden. Diese will ich nun auch noch besuchen, liegen sie doch auf halben Weg zur Siegessäule. Mit meiner Stamm-U-Bahn-Linie 2 fahre ich gegen Mittag zum Zoologischen Garten, dem berühmt-berüchtigten Bahnhof Zoo. Diesen versuche ich weitgehend zu meiden und spaziere stattdessen zur Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Umgeben von Neubauten aus den 60-er Jahren ragt die Turmruine empor. Drinnen ein bisschen Geschichte über die gesamte Anlage. Viele weitere Touristen haben dieselbe Idee und so ist der Kirchenrest gut besucht. Kontrastiert wird der Turmstumpf von Hochhäusern aus den letzten 20 Jahren. Nun denn, rauf auf den ach so bekannten Kurfürstendamm. – Ein kleiner Einschub: Im Januar wurde ich durch einen Podcast auf das Buch „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ der Autorin Gabriele Tergit aufmerksam. Ich entlieh es mir in der hiesigen Stadtbücherei und begann zu lesen. Eine wunderschöne und dichte Milieustudie über das Berlin der späten 1920-er Jahre. Und wie es der Zufall so will liegt mein Hotel just an der Gabriele-Tergit-Promenade und gehört zur Scandic-Gruppe. In zwei Hotels derselben Gruppe verbrachte ich meine 18. Geburtstag und den Jahreswechsel 1999 auf 2000. Gerade an das erste Hotel im südwestschwedischen Borås habe ich noch schöne Erinnerungen – Geburtstag im Whirlpool im obersten Stockwerk, während es draußen schneit. –
Also will ich nun ganz im Zeichen von Georg Käsebier den Kurfürstendamm erobern. Ich bin ziemlich ernüchtert. Eine lange Allee mit allerhand noblen Häusern und entsprechenden Geschäften. Wirkt irgendwie unspektakulär. Einen guten Kilometer ‚flaniere‘ über den Damm. Unterdessen entwickelt sich in meinem Kopf eine Assoziation: Ich kenne doch eine solche Prachtstraße schon aus einer anderen Stadt.? Richtig! Aus Göteborg! Kungsportsavenyn, oft nur „Avenyn“ genannt. Einen guten Kilometer zieht sie sich schnurgerade von Götaplatsen zu Kungsportsplatsen, gesäumt mit allerlei edlen Häusern aus der Gründerzeit, dazu noch bergab verlaufend und mit wesentlich weniger Autoverkehr, stattdessen vielen Straßenbahnen. Auch hier findet sich ein nobles Geschäft am nächsten. Dagegen wirkt der Ku-Damm eher fahl. Vielleicht liegt es auch nur an Tageszeit und Licht. Trotzdem würde ich Avenyn in meiner geliebten Stadt an der schwedischen Westküste dem Kurfürstendamm eher vorziehen. Als Sichtachse dient in Berlin der Turmstumpf der Gedächtniskirche und die beiden neuen Hochhäuser, Göteborg glänzt mit Neptun und dem wuchtigen Konstmuseum. Ab in den Bus und zurück zum Bahnhof Zoo. Von hier aus spaziere ich nun gen Nordosten am Zoologischen Garten vorbei und mache dabei eine kurze Pause auf dem Olof-Palme-Platz. Ein paar Tropfen von oben. Weiter geht’s. Nüchterne 60-er-Jahre-Architektur links und rechts. Ab über den Landwehrkanal in das Botschaftsviertel. Ein Komposit aus Stahl, Glas und viel Holz kündigt das Botschaftensemble der Nordeuropäischen Staaten an. Ich erhasche ein paar Blicke auf die Häuser, die in einem abgeschlossenen Innenhof liegen. Überlege kurz, die öffentliche Kantine zu besuchen, lasse es dann aber doch. Ab zum Bus, der mich zum großen Stern bringen soll. Während ich warte – was hier in Berlin eher Seltenheitswert hat, fahren doch gerade die Schienen-gebundenen Fahrzeuge in einem sehr dichten Takt – wird der Regen stärker. Das kann ja was werden. Wenige Minuten später steige ich an dem riesigen Kreisverkehr mit Zeugnis deutschen Größenwahns aus und stehe im Dauerregen. Recht schnell schaffe ich ein gutes Drittel des Kreisels um in einer Bushaltestelle zu verweilen. Hier sehe ich die Hinweistafeln zu einem der Aufgänge zur Siegessäule. Ein eher geducktes Häuschen im Nazi-Barock stellt sich als ein solcher Aufgang heraus. Endlich im Trockenen! Treppen runter, unter der Straße zu einer T-Kreuzung und mit Säule im Blick Treppen wieder rauf. Bindfäden-Tropfen fallen vom Himmel. Irgendwie passend. Schnell ein paar Bilder machen und den wenigen Publikumsverkehr genießen. In die Säule selbst will ich nicht, ein Aussichtspunkt genügt. Also nach ein paar Minuten Treppe wieder runter, zur T-Kreuzung und Treppe wieder rauf in ein weiteres Torhäuschen. Wo ich gerade so einen Lauf durch den regen habe, setze ich ihn gleich fort. Zurück zu den Botschaften, ein knapper Kilometer Fußmarsch im Aprilwetter. Warten. Lange warten nach etwa 15 Minuten kommt endlich mein Bus. Den angedachten Besuch bei Topografie des Terrors lasse ich sausen, bin zu platt. So geht es vom Potsdamer Platz zurück zum Hotel.
Etwas wehmütig versuche ich den letzten Abend zu genießen. Während der Dämmerung zeigen sich die Mondsichel und Venus am Westhimmel.
Ich beschließe, dass ich Berlin wieder besuchen werde. Die Stadt hat noch soviel zu bieten. Etwas unruhig verbringe ich die letzte Nacht im Hotel, ehe es tags darauf zurück nach Rhein-Neckar geht. Fahren in vollen Zügen zu genießen, fällt mir eher schwer. Vielleicht ist es dem Umstand geschuldet, dass zwei Tage später alle Busse und Bahnen wegen eines Streiks stillstehen werden.

Berlin – viel, bunt, groß!
Ich habe die Stadt nun nur ansatzweise kennengelernt und habe Lust auf mehr.

— SnusTux|René M. – 30/03-2023