„Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt…“
– genauer gesagt 250 Kilometer vom Brocken entfernt erzähle ich Euch die nächste Kalendergeschichte.
Donnerstag, der 24. Oktober am frühen Abend.
Ich stehe weit oben und blicke über eine dichte Landschaft. Kleine Häuser im Vordergrund, Türme aus Stahl, Beton und Glas allüberall; dampfende Schlote dahinter, ein bewaldeter Hügel mit Windkraftwerk daneben; und sehr viel Grün, dass in bunten Herbstfarben strahlt; dazu ein dunstiger Himmel. Irgendwie voller Leben und doch so ruhig. Ich stehe da, blicke in die Ferne und genieße.
„… ist es besser, viel besser als man glaubt! – Tief im Westen!“
Vielleicht habt Ihr diese drei Lied-Zeilen erkannt. Sie sind mittlerweile fast 40 Jahre alt und stammen von Herbert Grönemeyer. Sein Stück „Bochum” ist zu einer Hymne geworden.
Und auch wenn ich nicht in Bochum, sondern im benachbarten Essen bin, so widerspiegeln diese Zeilen doch mein Gefühl für diese besondere Gegend – für den „Pott“, das Ruhrgebiet.
Gut 30 Jahre meines Lebens mussten vergehen, ehe ich dieses Stadt-gewordene Gebiet deutscher Industrialisierung kennenlernen durfte und wollte.
Alles beginnt am Südrand Bremens einen Tag bevor dieses Bild entsteht.
Von dort fahre ich gen Emsland und weiter über die A31 nach Süden. Stunden später erreiche ich – die dem Namen nach wohl klischeehafteste Ruhrgebietsstadt – Bottrop. Und ich will es gleich wissen! Abseits der Autobahn fahre ich weiter durch Essen zu meinem Quartier in Mülheim an der Ruhr – vor allem bekannt als Heimatstadt von Helge Schneider. Perfekt gelegen und mit Straßenbahn vor der Nase verbringe ich meinen ersten Abend im „Pott“. Insgesamt drei volle Tage mache ich hier Station.
Und bereits Tag eins lässt mich innerlich schmunzeln. Ich habe mir ein paar Höhepunkte vorgenommen und möchte diese ganz ohne Auto erreichen. Von Mülheim geht es nach Oberhausen zur „Neuen Mitte“. Ein riesiger Vergnügungspark mit dem Einkaufstempel „CentrO“ auf einem früheren Industriegebiet. Ich schlendere ein wenig durch das Labyrinth und mache auch Station im nahen Legoladen. Bleibende Eindrücke… Nicht weit davon entfernt steht eines der wohl bekanntesten Bauwerke des Ruhrgebietes, der Gasometer. Ein wuchtiger Metallzylinder der dem Himmel entgegenstrebt. Je näher ich komme, desto mächtiger wirkt er.
Sein Inneres ist ein Gewirr aus Stahlträgern versehen mit starken Gasgeruch – irgendwie ähnlich diesem Dresden-Geruch von früher. Gerade befindet sich in ihm eine riesige Luftblase des Künstlers Christo, von ihm als „Big Air Package“ betitelt. Mit mir staunen noch viele weitere Besucher über diese Kunst. Einen Besuch der Aussichtsplattform spare ich mir leider, da der Aufzug nicht funktioniert und ich keine Lust auf Treppen habe. Deshalb ziehe ich weiter. Ein neues Ziel muss her! Und es wird … Trommelwirbel … das andere bekannte Pott-Bauwerk, die Zeche „Zollverein“ in Essen. Ich nehme aber nicht den direkten weg zum Haupteingang sondern besuche zuerst die alte Kokerei etwas nördlich davon. Ich atme diese geschichtsträchtige Industrieluft der alten Anlagen tief ein.
Es ist ein Gewirr aus Förderanlagen, Gebäuden und Leitungen, langsam vor sich hin rostend. Dazu fünf sehr markante Schlote. Und es ist irgendwie so garnicht grau sondern eher herbstlich bunt. ich bin positiv überrascht.
Nur die alte Haldenfläche trennt mich jetzt noch von Schacht XII. Keine 10 Minuten später stehe ich vor dem Logo der Industrieregion.
Es wirkt irgendwie alles riesig im Revier. Auch dieser ehemalige Förderturm. Besuchen kann ich ihn leider nicht, stattdessen aber das nahegelegene Museum in der früheren Kohlenwäsche. Schon die ewig lange und rostrote Rolltreppe verspricht viel. Doch anstatt in der Geschichte zu schwelgen steuere ich auf die Aussichtsplattform zu, um mir einen ersten Überblick zu verschaffen. Es entsteht das Motiv für den September.
Im Vordergrund reicht der Blick über Essen-Katernberg, einer so typischen Arbeitersiedlung des frühen 20. Jahrhunderts. Dahinter ragt der Turm der früheren Zeche „Nordstern“ in Gelsenkirchen empor. Gegen ihn wirkt das Fördergerüst links daneben eher klein. Hinter allem sind Großkraftwerk und Halde Oberscholven, ebenfalls zu Gelsenkirchen gehörend, zu sehen.
Nach Süden ist es eher dunstig, bedingt durch die tiefstehende Sonne. Und doch lässt sich die Skyline Essens erkennen.
Das hat was von einer internationalen Metropole.
Zwei Höhepunkte am ersten Tag sind genug, zumal ich mich bewusst auf die Öffis verlasse. Und so komme ich am frühen Abend wieder in meinem Quartier an.
So ganz lässt mich das Museum nicht los. Spontan beschließe ich, tags darauf erneut in die Kohlenwäsche zu gehen. Notizen von damals:
„Nach ein paar Kilometern Ruhrschnellweg war ich erneut an der WeltkulturerbeStätte in Essen. Kurz nach 11 betrat ich die Kohlenwäsche – erst 5 Stunden später verließ ich sie wieder! Eine sehr interessante und lohnenswerte Ausstellung über die Geschichte und das Wesen des Ruhegebietes. Recht amüsant war der Film über das Ruhrdeutsch, vorgetragen vom Kabarettisten Fritz Eckenga.“
Einen besseren Überblick kann ich kaum bekommen. Gerade das Wesen der Menschen und deren Dialekt sind mir sehr sympathisch. Neben Eckenga kommen auch Uwe Lyko alias Herbert Knebel, die Missfits, Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier, der bereits erwähnte Helge Schneider und weitere bekannte Stimmen aus dem „Pott“ zu Wort. Es ist mir ein innerliches Blumenpflücken, Ruhrdeutsch zu hören. Ich bin begeistert und das immer mehr.
Der Rundumblick tags zuvor hatte mir ein weiteres Ziel schmackhaft gemacht, das ich nun ansteuere. Den Rest des Tages lasse ich meine Zeilen vom Oktober 2013 sprechen:
„Nach diesen aufschlussreichen Stunden war mein Plan, mehrere Halden zu besuchen, dahin. Ich entschied mich deshalb nur eine der Aufschüttungen anzufahren – die gestern entdeckte Halde Hoheward zwischen Recklinghausen und Herten. Nach gut 30-minütiger Fahrt über den Emscherschnellweg, aka A42, war diese erreicht. Wissend um einen stufenreichen, langen, Aufstieg ließ ich mein Stativ im Kofferraum. es war ja noch recht hell und viel Zeit bis zum Sonnenuntergang. Mit 2 Kameras und 3 Gläsern bepackt ging es nach oben. Volltreffer! Ein wunderschöner Ausblick über große Teile des Ruhrgebietes bot sich mir. Dazu die tiefstehende Sonne. Ich versuchte möglichst viel auf die beiden DX-Chips zu bannen. Zwei Motive ergaben sich zwischendurch: Der Ansatz eines Regenbogens und – amüsant durch die Perspektive – spielende Kinder ‚vor‘ dem Großkraftwerk Gelsenkirchen. Etwa 20 nach 6 war die Sonne untergegangen. Ich machte mich auf den Rückweg. … oder doch nicht! Spontan entschied ich mich für ein paar LZ’s in der Blauen Stunde. Anfangs aus der Hand erwiesen sich alsbald die, mit Schutt gefüllten, etwa 50cm hohen, Maschendrahtgitter als respektabler Stativersatz. Es vergingen weitere 45 Minuten ehe ich dann doch abzog. Fast im Dunklen stiefelte ich die Stufen zurück zu meinem 200.000-er. [Auf dem Hinweg hatte ich die 200.000-Kilometer-Marke mit meinem Fahrzeug geknackt. In der Saab-Sprache war er jetzt eingefahren.] Richtig gemacht, denn sehr bald setzte Regen ein. Zurück ging es durch Herten und Herne; über den Emscherschnellweg; mit einem kleinen Abstecher nach Bottrop; und, baustellenbedingt, durch eine Wohngebiet in Essen-Borbeck.
Ein geiler Tag geht zuende. Es ist kurz vor Mitternacht und der Regen prasselt auf die Dachluke meines Zimmers. Morgen? Keine Ahnung.“
Von den vielen Bildern mögen zwei für sich sprechen:
Wäre da nicht das Kraftwerk am rechten Bildrand, so würde ich mich in Skandinavien wähnen. Eine offene, nur von Büschen bewachsene Haldenlandschaft, die den Blick in die Ferne schweifen lässt.
Das „spielende“ Kind vor dem Kraftwerk GE-Scholven.
Die schiere Größe dieser beiden Metallbögen ist kaum zu fassen. Leider auch nicht deren Zustand, da sie bereits seit der Errichtung baufällig sind. Eine besondere Landmarke sind sie allemal.
Am letzten Tag erkunde ich den Nordwesten und fahre bis Wesel. Auch hier bleiben die Eindrücke. Meine Zeit beschließe ich mit einem weiteren Haldenbesuch, dieses Mal in Bottrop. Auf der Halde Beckstraße steht eine weitere Landmarke, der Tetraeder.
Zeitsprung.
Knappe drei Jahre später bin ich erneut im Ruhrgebiet. Und dieses Mal funktioniert der der Aufzug am Gasometer Oberhausen. So möchte ich Euch noch dieses Bild mit Blick auf Rhein-Herne-Kanal und „Neue Mitte“ zeigen.
Leise „Oberhausen“ von den Missfits (und ein bisschen Ruhrdeutsch für Euch zum Schmunzeln) summend möchte ich meine bebilderte Liebeserklärung an das Ruhrgebiet beenden.
Hier sind die technischen Daten zum Bild:
Datum & Uhrzeit: 24.10.2013, 17:01 Uhr
Kamera: Nikon D300S
Objektiv: Tamron 70-300 VC
Brennweite: 170mm
Blende: f/8
Verschlusszeit: 1/250s
ISO-Wert: 200
Der Oktober wird wieder sehr ruhig. Wir reisen in die nordöstlichste Ecke Deutschlands und wieder ans Wasser.
Bis dahin,
— SnusTux|René M. – 01/09-2022 (25.08.2022)