Knappe 200 Kilometer nordöstlich und einen Grenzübertritt vom Fichtelgebirge entfernt begrüße ich Euch aus der Sächsischen Schweiz.

Kalt ist es schon wieder, an diesem Morgen des 12. März 2014 – ein Mittwoch.
Eine verträumte Morgenlandschaft. Sanft wabert Nebel über Felder und Berge. Ein einsamer kahler Baum am linken Bildrand, dahinter ein kleiner Teich. Rauch steigt aus den Schornsteinen des Dorfes auf und verbindet sich mit dem Dunst. Rechts geht langsam die Sonne hinter der Kaiserkrone auf und sorgt für warmes Licht. Tau auf den Feldern. Sonnenstrahlen brechen sich in den winzigen Wassertröpfchen. Kalt und warm so dicht beieinander. Und ich sitze in der ersten Reihe und genieße einfach; sitze in meinem warmen Zimmer und blicke aus dem Fenster.
Es ist ein ganz besonderer Sonnenaufgang, den ich erlebe, in einer ganz besonderen Gegend.

Seit dem abendlichen Fichtelsee-Bild sind fünf Tage vergangen. Seit dem Tag darauf bin ich hier – in einem kleinen Hotel oberhalb von Reinhardtsdorf-Schöna. Wie schon im letzten Text geschrieben, hielt ich mich von den Autobahnen weitgehend fern und erkundete auf der Hinfahrt stattdessen das Erzgebirge mit all seinen unterschiedlichen Landschaften. Bereits die Ankunft in meinem 4-Nächte-Quartier ist sehr schön. Vom Dorf führt eine kleine schmale Straße langsam bergan. Im Hotel selbst öffnet sich dann der weite Blick auf die abwechslungsreiche Gegend mit schroffen Tafelbergen aus Sandstein, den großen Ebenheiten oberhalb der Elbe und viel Wald.

Am ersten Tag wandere ich zu den beiden Zschirnsteinen und genieße – vor allem vom Großen Zschirnstein – die wunderbare Aussicht auf das bergige Land beiderseits der deutsch-tschechischen Grenze. So kommen gut 15 Fuß-Kilometer zusammen. Auf dem Rückweg kann ich dann auch meine Übernachtungsstelle festhalten:

Panoramahotel Wolfsberg

Sie, das „Panoramahotel Wolfsberg“, liegt an gleichnamigem Berg oberhalb des Doppeldorfes Reinhardtsdorf-Schöna. Das Hotel hält, was es verspricht. Während der Tage, die ich dort bin, ist nur wenig los, was ich sehr genieße. Unterhalb des Hotels führt ein Wanderweg um den Berg, der weitere Ausblicke auf die Sandstein(Tafel-)berge und Ebenheiten der Sächsischen Schweiz bietet. Ein Volltreffer bei der Quartierswahl!
Den zweiten Tag bin ich auf der anderen Elbseite unterwegs und erklimme den Brand zwischen  Porschdorf und Hohnstein. Dieser zerklüftete und stark bewaldete Tafelberg wird auch „Balkon der Sächsischen Schweiz“ genannt. Von ihm hat man einen Blick auf alle markanten und wichtigen Berge dieses kleine  Gebirges. Den Lilienstein direkt vor der Nase, den Königstein dahinter; dazu Quirl, Pfaffenstein, Gohrisch & Papststein. In der Ferne meine beiden „Hausberge“ Kaiserkrone und Zirkelstein und am Horizont die mächtigen Zschirnsteine. Dazwischen viele Hochebenen durch die sich die Elbe schlängelt.

Ich bin Tourist; fahre mit HD-Kennzeichen umher. Ich entdecke diese Gegend als Tourist. Und doch ist es schwer, geistigen Abstand zu wahren. Viele Namen sind mir so vertraut. Viele Bilder sind mir vertraut. Der massive Lilienstein, die wuchtige Festung Königstein. Als Kind empfand ich das als riesig. Dazu die Dörfer und Städtchen an der Elbe – Bad Schandau, Rathen, Wehlen…
Seitdem sind weit über 20 Jahre vergangen; vor fast 15 Jahren habe ich die Gegend verlassen. Nun, während ich diesen Text schreibe, habe ich mehr Zeit außerhalb Dresdens verbracht, als ich in der Stadt – in der Gegend – gewohnt habe. Das merke ich. Es ist eine sehr verquere Gefühlswelt. Sinnbildlich dafür steht folgender, kleiner Auszug aus meinen damaligen Aufzeichnungen:
„Nach dem Frühstück begann meine kleine Rundfahrt. Einkaufen und Bankgedöns in Pirna und Lohmen – meine Feldstudie “unter Einheimischen”, Locationsuche am Hockstein.“
„Unter Einheimischen“ – ich zähle mich nicht mehr dazu; habe Distanz aufgebaut. Dabei bin ich doch eigentlich einer „von denen“. Gerade bei dem vertrauten Dialekt kommen in mir zwiespältige Gefühle auf: Ich mag ihn irgendwie – und irgendwie auch nicht. In diesem Dialekt schwingt soviel mit, Positives wie Negatives. Gerade Letzteres überwiegt seit vielen Jahren bei mir. Es sind Handlungen, Ereignisse und Ansichten mit denen ich mich nicht identifiziere – die ich verurteile. Die Gegend galt und gilt als Hochburg sehr rechter Parteien, deren Umtriebe auch in der Öffentlichkeit stattfinden. Ein allgemeines Problem, das viele Teile Sachsens betrifft. Bei meinem damaligen Besuch gab es Zusammenkünfte wie „Pegida“ noch nicht, aber die NPD war in Pirna und dem Landkreis sehr präsent. Heute ist diese Nazivereinigung nur noch eine Randerscheinung, während die AfD dominiert. Beim Gedanken daran erschaudert es mich, lebe ich doch seit sehr vielen Jahren in weltoffenen Gegenden.

Zurück zu meiner Reise. Am dritten Tag besuche ich den Kuhstall, den ich als Kind schon erwandert hatte. Ein riesiges Felstor, das in früheren Zeiten oft als Schutz- und Zufluchtsort für die Einheimischen gedient hatte. Ringsherum viel Wald.
Meinen letzten Abend verbringe ich wie so oft mit Schreiben und Fotografieren. Es ist Dunkel geworden. Das Dorf unterhalb des Zirkelsteins ist hell in kaltem, weißen, Licht erleuchtet – ein Fußballplatz?

Nächtliches Dorf

Der Morgen danach. Die langsam aufziehende Morgendämmerung weckt mich. Wie schon die Tage zuvor liegt Dunst über dem Elbtal. Die Sonne schält sich langsam aus dem Nebel südlich des großen Winterbergs. Ich liebe diese Tageszeit und diese Jahreszeit. Ein Morgen zwischen Winter und Frühling; hohe Luftfeuchtigkeit und romantische Lichtspiele. Ich beobachte aus meinem warmen Zimmer und fotografiere gelegentlich. Dabei entsteht auch dieses Bild, das aufgehende Sonne und Zirkelstein gegeneinander stellt:

Sonnenaufgang und Zirkelstein

Hier dominiert noch das kühle Blau. Kaum 10 Minuten später entsteht das Märzbild.
Ich genieße. Die Zeit vergeht. Das warme Licht ist so angenehm.
Zeit zum Packen und Frühstücken. Kurz bevor ich das Hotel endgültig verlasse, entdecke ich eine Katze vor dem Fenster. Sie sitzt gemütlich unter einer Hecke, halb in der Sonne, und putzt sich.

Morgendliche Katzenwäsche

Die vier Tage vergehen wie im Flug. Doch ganz verlasse ich die Gegend nicht. Ich verlege meine Unterkunft stattdessen in die Stadtmitte Dresdens. Für die knapp 50 Kilometer habe ich sehr viel Zeit. Um diese zu füllen erkunde ich Pirna.

Und jetzt bin ich auf einer richtigen Zeitreise. Bereits am am Vortag besuche ich die Stadt und notiere folgendes:
„ Tanken in Pirna. Einige Ecken an der B172 haben sich in den letzten 15-20 Jahren kaum verändert – sie verfallen weiter. Schade um die alte Bausubstanz.
In der Tankstelle wurden Kindheitserinnerungen wach. In den 80-er Jahren, bis 1992, besuchte ich oft meine Oma in der Schmiedestraße. Die Wohnung war von einem markanten Geruch geprägt – einem Mix aus abgestandenem Zigarettenrauch und süßlichem Bierduft – schwer zu beschreiben, aber für immer in meinen Erinnerungen gespeichert. Genau dieser Duft fand sich in der Tankstelle. Ein weiterer Geruch war in der Stadt erhalten geblieben. Dieser hat etwas verbranntes, kohliges – der Pirna-Geruch, fest verwoben mit meiner Kindheit.
Morgen wird die Stadt Zwischenziel auf meiner langen Reise nach Dresden. Bin gespannt, was sich seit Anfang der 90-er Jahre verändert hat.“
Nun bin ich wieder da und lasse meine Gedanken von Tag sprechen:
„Kurz vor 10 begann ich meine lange Überführungsetappe gen Dresden. Erster Zwischenstopp war Pirna. Parken auf dem Markt? – keine Chance! Alles voll weil Markttag. So stellte ich mich an die Elbe und begann meine Stadtwanderung – bepackt mit der D300s + Sigma und dem Tele im Rucksack, ohne GPS. Den ersten Stopp legte ich an der sehr guten Stadtinformation am Markt ein, danach ging es zu Marienkirche. Sehr schöner Bau. Bin früher nie drinnen gewesen. Via Oberer Burgstraße spazierte ich zur Schmiedestraße. Deren oberer Teil glich eher einer Großbaustelle mit vielen Kränen. Sehr bald bog ich links in die Gerichtsstraße ein. Viel hat sich hier getan; vom verwahrlosten Durchgang der frühen 90-er ist nichts mehr geblieben, stattdessen schöne Bürgerhäuser samt Dönerladen.
Entlang des Dr.-Külz-Ringes ging es zur Kirche St. Kunigunde. Der Bau selbst interessierte mich nicht, eher das was sich dahinter findet: Ein kleiner Steinpfad führt um die Kirche herum und bietet einen Blick auf einige Hinterhöfe der Schmiedestraße, so auch Nr. 25. Hier nun wohnte bis 1992 meine Oma, war ich oft zu Besuch und verbrachte ein Teil meiner Familie seine Kindheit und Jugend. Nun ja, es war ein trauriger Anblick. Alles verwahrlost und zugewachsen, das Hinterhaus noch vie vor 22 Jahren aussehend. Schade. In meinem Hals begann sich ein Kloß zu bilden und meine Stimmung ging bergab – glücklicherweise durch eine Sonnenbrille verdeckt. An der Breiten Straße herrschte geschäftiges Treiben, viele Schüler und ältere Leute unterwegs. Spazierte bis zur Königsteiner-/Schandauer Straße und bannte die beiden Eckhäuser an der Breiten Straße auf DX-Chip. Hier waren wir bei unseren Besuchen immer in die Pirnaer Altstadt abgebogen. Das westliche Eckhaus war mir schon gestern aufgefallen. Es verfällt leider immer weiter. Das östliche hat seit den 90ern keine Farbe mehr gesehen, befindet sich aber in einem wesentlich besseren Zustand.
Zurück zur Altstadt. Ein kurzes Stück auf der gut besuchten Dohnaischen Straße, dann bog ich wieder in die Häuserschlucht der Schmiedestraße ab. Es ist eine Straße der Gegensätze: Viele modernisierte Häuser, dazwischen aber auch einige stolze Bauten, die seit Jahrzehnten verfallen. Einer davon ist leider auch die Nummer 25. Im ersten Stock hängen noch die Gardinen mener Oma – seit 22 Jahren! Der Kloß im Hals wurde noch größer. Traurig! Via Frongasse ging ich zurück zum Markt. Ein paar Bilder vom Marktgeschehen, dann via Schössergasse zurück zur Dohnaischen Straße und gen Elbe. Noch ein letzter blick in die Lange Straße und auf die Hochwassermarke von 2002, dann war mein sehr spezieller Stadtrundgang beendet. Die Uhr zeigte halb eins.“

Das schrieb ich am Abend des 12. März 2014. Seitdem sind fast 8 Jahre vergangen. Meine Gedanken haben sich in den Erinnerungen festgebissen. Sie graben sich immer weiter hinein und fördern immer mehr zutage, vor allem in den letzten Tagen und Wochen. Und das, was sich dabei ergeben hat, möchte ich Euch nun erzählen. Zwei Bilder, die mittlerweile historisch sind und an jenem Tag im März 2014 entstanden, zeige ich Euch dazu. Nummer 1 zeigt die Hofansicht auf das Haus Schmiedestraße 25, Nummer 2 die Frontansicht auf das Haus.

Plötzlich bin ich wieder der kleine Junge, der auf eine gefühlte Weltreise geht. Wir schreiben das Jahr 1988.
Vom Südosten Dresdens auf die Bundesstraße; anfangs eine recht kurvenreiche Strecke durch alte Dörfer. Ab Heidenau wird es städtisch. Neubauten und vor allem viel Industrie. Dazu dieser alles umwabernde Dunst und Geruch. Schwer zu beschreiben, irgendwie verbrannt, nach Chemie riecht es. Weiter Richtung Pirna ändert sich nicht viel. Häuser, die kaum 80 Jahre alt sind, oder aus der Zwischenkriegszeit sind, verfallen. Putz blättert ab, Mauerwerk ist zu sehen. In den Fensterrahmen das blanke Holz; ohne schützende Farbe, grau, vertrocknet. Schornsteine und verfallende Industrieanlagen runden das Bild ab.
Die Einfahrt in die Stadt ist irgendwie freundlich. Eine breite Straße zieht sich durch die Stadt Richtung Sonnenstein. Anfangs gibt es noch neuere Bebauung, je näher wir der Altstadt kommen, desto verfallener sind die Häuser. An der Karl-Marx-Straße biegen wir links ab. Verfallende Fassaden einst stolzer Bürgerhäuser geleiten den Weg. Nochmal rechts auf den Wilhelm-Külz-Straße und wir sind fast da. Parken in der Gerichtsstraße.
Da ist diese Enge, diese Dunkelheit, dieses erdrückende Gefühl. Und da ist dieser beißende Geruch, der aus den vielen Schornsteinen strömt. Ich habe Angst, hier zu sein; will hier weg. Langsam gehen wir durch eine schmale Gasse zur Schmiedestraße. Eine lange, dunkle Straße. Laternen sind wohl keine vorhanden – da verblasst meine Erinnerung. Der Weg ist so unendlich lang, obwohl es kaum 150 Meter sind. Ein schmaler Fußweg verläuft neben der, aus grob gehauen Steinen, gepflasterten Straße. Links und rechts sind kleine geduckte Fenster in den Häusern. Kaum mehr als größere dunkle Löcher in den Fassaden. Auch hier bröckelt der Putz. Überall nagt der Zahn der Zeit. Es verfällt. Bald stehen wir vor einem grün gekachelten Hauseingang.Wir betreten das Haus. Ein schmaler Gang führt hinein und teilt sich bald. Rechts geht es in den Hof, links zweigt eine steile steinerne Treppe ab, die weiter oben einen Knick nach rechts macht. Im Flur ist schummriges Licht und ein muffiger, feuchter, Geruch. Ich stapfe die Stufen hoch und stehe vor der Wohnungstür meiner Oma; trete hinein.
Es ist hell. Ein Klavier ziert den Raum und steht links an der gegenüberliegenden Wand der Eingangstür. Holz knarzt unter meinen kleinen Füßen – nur mit einem ausgeblichenen Teppich verdeckt. Rechts steht an derselben Wand ein wuchtiger alter Schrank. Oma begrüßt uns und wir gehen direkt in die Küche – der Lebensader dieser Wohnung. Direkt neben der Wohnungstür führen ein paar Stufen hinab in einen dunklen Raum. Von dort gehen nach rechts weitere Stufen in einen großen, aber geduckten Raum. Die Küche. Am Ende ein kleiner Tisch, zu Raummitte gedreht. Darauf eine Flasche Bier, eine halb gefüllte Bier-Tulpe, ein recht voller Aschenbecher und ein paar Zeitschriften; Zigarettenschachtel, Feuerzeug, Lesebrille. Die Ecke wird von einer kleinen Deckenlampe und einem ebenso kleinen Fenster zum Hinterhof erleuchtet. Am Tisch sitzt meine Oma. Dieser Raum ist von einem speziellen Geruch eingehüllt. Abgestandener Zigarettenrauch und Bier; irgendwie süßlich-verbrannt. Bekannt und doch abstoßend.
An der Wand hinter dem Tisch führt eine Tür zu einem weiteren Zimmer. Dieses ist ebenfalls sehr geduckt, wirkt aber heller. An den Außenwänden wellt sich die Tapete. Einzelne Schimmelflecken sind in den Ecken auszumachen. Es riecht irgendwie muffig und es ist kalt. Ich höre für diesen Raum immer den Begriff „Mädchenzimmer“, aber ab hier verblasst meine Erinnerung an die weitere Einrichtung. Zurück in die Küche. An der Wand hinter dem kleinen Fenster führt eine Tür zu einem weiteren Raum. Er ist ebenso karg und kalt wie das Mädchenzimmer, genauso hell und es riecht auch hier muffig und nach Schimmel. Ein paar Betten und Schränke zieren den, mit einem dünnen Teppich ausgelegten, Raum mit Holzboden. Ich höre hierfür oft den Begriff „Jungszimmer“. Keine Ahnung, was die mit diesen beiden Begriffen meinen.
Zurück aus der Küche in den dunklen Raum. Er schmiegt sich teilweise unter die Treppe im Hausflur und sorgt bei mir für großes Unbehagen. Am Ende ist etwas Licht. Rechts eine Tür, links auch. Die Tür rechts führt in eine winzige Kammer, in der die Toilette ist. Kaum mehr als ein Loch mit einer Klobrille. Darunter eine Platte, die man öffnen und schließen kann. An der Seite eine Kanne mit Wasser zum Spülen. Alles fällt in eine riesige Grube. Schimmel ziert den Raum, die Wände sind fast schwarz. Über dem Plumpsklo ein kleines Fenster, das für etwas Licht sorgt. Die andere Tür führt zum Bad. Kaum mehr als eine Höhle; vielleicht 2 Meter hoch und kaum länger und breiter. Darin eine Badewanne und wohl auch ein Waschbecken. Es ist schummrig. Ich will hier nicht sein.
Dann doch lieber wieder in den Flur mit dem Klavier. Von dort geht rechts eine größere, verglaste, Tür ab. Ich gehe hindurch und stehe in einem hohen, sehr geschmückten, Raum mit 3 Fenstern. Dunkle Holzmöbel, ein verzierter Deckenleuchter, Teppichboden, auf dem man kaum noch eine Musterung erkennen kann. Verblasste Tapete mit aufgedruckten Ornamenten an den Wänden und ein Kachelofen. So recht warm ist es hier auch nicht und das Geruchsgemisch aus abgestandenem Zigarettenrauch, Bier und etwas Muffigem ist auch hier in meiner Nase. Das Wohnzimmer. Rechts an der Wand führt eine Tür zu einem schmalen, ebenso hohen Raum, an dessen Stirnseite ein weiteres Fenster ist. Darin massive Holzschränke und 2 verzierte Betten mit dicken Decken.
Ein Labyrinth von Wohnung. Ein Abenteuerspielplatz für mich. Und darin wohnt eine etwa 60-jährige Frau, deren Mann seit langem tot ist und deren 7 Kinder längst erwachsen sind. Eine warme Frau, die doch distanziert wirkt. Meine Oma.

Es ist bedrückend, auch über 30 Jahre später. Längst habe ich verstanden, was es mit den Begriffen „Mädchenzimmer“ und „Jungszimmer“ auf sich hat. Meine Oma hat zwischen 1955 und 1966 sieben Kinder bekommen – 4 Mädchen und 3 Jungs. Diese, letztendlich 9-köpfige, Familie brauchte eine Wohnung. Und eben jene beschriebene Wohnung bot genug Platz für alle. Nun wirkte meine Oma darin etwas verloren. Ab und zu kamen einige ihrer Kinder zu Besuch – manche bereits mit eigenen Kindern, so wie mir. Meine Oma wollte schon seit langem aus dieser riesigen Wohnung weg, wollte etwas Kleineres. Es dauerte sehr viele Jahre, ehe ihr Wunsch im Frühling 1992 – die Mauer war längst gefallen – in Erfüllung ging. Sie bezog eine großzügige 1-Zimmer-Wohnung in einem modernen Haus auf dem Sonnenstein. An die Zeit des Umzugs kann ich mich noch gut erinnern. Viele halfen beim Aussortieren und steckten sich ein, was sie kriegen konnten. Ein unsägliches Schauspiel, das ich als 10-jähriger Bub miterlebte.
Und doch sind die Erinnerungen an diese alte Wohnung inmitten der Pirnaer Innenstadt wach; sind stärker und präsenter als an die anonyme Wohnung auf dem Sonnenstein. Im Rückblick fällt es mir schwer zu glauben, dass man noch vor 30 Jahren so hausen musste. Die Zeit der DDR war für viele alte Innenstädte die Zeit des Stillstands und damit die Zeit des Verfalls. Es wurde – wenn überhaupt – nur das allernötigste gemacht. Dabei sind viele Teile der Innenstadt sehr alt. Sie reichen bis in die Spätgotik zurück – ins 14. und 15. Jahrhundert. Ein Großteil der Häuser ist barock. Wenige Gebäude wurden in der Gründerzeit überbaut. Sie stechen durch ihren reichen Zierrat heraus. Das beschriebene Wohnhaus in der Schmiedestraße 25 stammt laut sächsischer Denkmalpflege vom Ende des 18. Jahrhunderts – hat also auch schon über 200 Jahre in seinen Mauern. Und beim Betreten der Wohnung erinnerte noch sehr viel daran, wie es vor 200 Jahren einmal war. Einzig Elektrizität kam später hinzu.
Die beiden Bilder zeigen einen Zustand, den ich noch aus meiner Kindheit kenne.
Auf dem oberen Bild erkennt man links das Hinterhaus. Die beiden linken Fenster gehörten zum Mädchenzimmer, das Fenster rechts daneben – von Bäumen fast verdeckt – zur Küche. Das dreiflügelige Fenster an der Längsseite warf Licht ins Jungszimmer und das kleine, in der Mitte vertikal geteilte, Loch rechts daneben gehörte zur Toilette.
Auf dem zweiten Bild kann man gut den Hauseingang und die drei enger zusammenstehenden Fenster der Wohnstube erkennen. Links daneben das Fenster des elterlichen Schlafzimmers. Einzig die grünen Kacheln im Erdgeschoss sind verschwunden. Sie fielen vermutlich dem Hochwasser von 2002 zum Opfer, das große Teile der Pirnaer Innenstadt betraf.

Weitere Erinnerung schwingen mit. In den Sommerferien – es muss 1990 gewesen sein – war ich für ein paar Tage bei meiner Oma. Ich kann mich noch gut an die schöne Zeit erinnern. Wir spielten viel miteinander, wanderten bis nach Graupa. Und meine Oma erzählte mir Geschichten. Alles war so herrlich in dieser doch so bedrückenden Enge der Pirnaer Innenstadt. Sie erzählte von ihrer Kindheit in Ostpreußen. Sie erzählte davon, dass sie mit ihrer Familie zum Kriegsende vertrieben wurden. Sie erzählte aber nicht, was während dieser langen Flucht passierte. Sie erzählte nicht, wie sie als Flüchtlinge nach dem Krieg aufgenommen wurden. Erst Ende der 50-er Jahre setzen ihre Erzählungen wieder ein. Und hier vermischen sie sich mit den Erzählungen meiner Mutter aus deren Kindheit.
Was darin auch mitschwingt, sind die vielen Familienfeiern, in denen Oma Mittelpunkt war. Die einzigen wenigen Gelegenheiten, bei denen sich nahezu alle ihre Kinder – teilweise mit Enkeln – um sie sammelten.

2002, wir hatten längst Dresden verlassen, zog Oma vom Sonnenstein ans andere Ende des Elbtalkessels nach Radebeul. Sie war nun ihrer ältesten Tochter – der Zwillingsschwester meiner Mutter – sehr nahe. Ich hatte kaum noch Kontakt zu ihr. Erinnere mich noch an ihren 75. Geburtstag im Juni 2002 auf einem Gasthof bei Pirna. Und ich erinnere mich an den 50. Geburtstag meiner Mutter und ihrer Zwillingsschwester im Januar 2005 in Radebeul. Das sollte das letzte Mal sein, dass ich Oma sehe.
Im Sommer bekam sie – jahrzehntelang sehr starke Raucherin – die Diagnose Lungenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Von da an war meine Mutter oft in Sachsen und bei ihr im Krankenhaus. Es ging stetig bergab mit ihr. Ich hörte all dies nur aus den Berichten meiner Eltern.
Am Abend des 22. November rief mich mein Vater an. Ich saß in meinem WG-Zimmer in Kiel und war weit weg. Er meinte, dass Oma gestorben sei. Ich sackte in mich zusammen und weinte.
Gerade in der Rückschau – und mit meinem Hintergrund als (abgebrochener) Historiker – hätte ich noch soviele Fragen an sie gehabt. Die Antworten hat sie mit in ihr kleines Grab auf dem Radebeuler Friedhof genommen. Dieses besuchte ich letztes Jahr am 26. Juni, anlässlich ihres 94. Geburtstages. Ich stand davor, las den Namen und die Daten und mich überkam ein Gefühl tiefer Trauer. Minuten nur in denen ich sie mir zurück ins Gedächtnis holte. Minuten, in denen mir ihr Gesicht vor den Augen erschien. Diese Minuten habe ich auch jetzt, während ich diese Zeilen schreibe. Ich sehe sie vor mir. Und ich empfinde Trauer.

In Gedenken an
Erika Lößner, geb. Budweg – 26.06.1927 – 22.11.2005.
Danke für diesen Teil meiner Kindheit und die schönen Zeiten mit Dir. Ich hoffe, es geht Dir gut, dort, wo Du jetzt bist. Kümmere Dich gut um Deinen zweitältesten Sohn, der im Dezember 2021 viel zu früh verstorben ist.

Es ist dieser starke Kontrast zwischen der beschriebenen Wohnung und meiner Oma als Mensch. Dieser Kontrast, den ich nur schwer aufzulösen vermag. Deshalb lasse ich das Geschriebene einfach so stehen…

Wie runde ich diese bedrückende Geschichte ab?
Nunja, ich fuhr am Mittag weiter nach Dresden und Radebeul; bezog mein Quartier in der Nähe vom Bahnhof Mitte und traf mich tags darauf mit meiner Tante. Die Fotografie und das Tourist-sein rückte wieder in den Mittelpunkt. Ich entdeckte neue Ecken und genoss den nächtlichen Blick vom Radebeuler Bismarckturm auf das obere Elbtal und Dresden mittendrin. Ich musste die ganzen Eindrücke erstmal verarbeiten.

Nächtlicher Blick über Dresden

Genuss pur, mit all den Lichtern und Türmen.

Hier sind die technischen Daten zum Bild:
Datum & Uhrzeit: 12.03.2014, 06:42 Uhr
Kamera: Nikon D300S
Objektiv: Sigma 17-70 f/2.8-4 OS
Brennweite: 28mm
Blende: f/11
Verschlusszeit: 1/180s
ISO-Wert: 200

Im April bleiben wir im Osten und reisen an die Küste.

Bis dahin,

— SnusTux|René M. – 01/03-2022 (17.01.2022)