Fast 2.400 Kilometer Luftlinie reisen wir nach Süden – von der kargen Barentssee ins hügelige Eichsfeld.
Und damit heiße ich Euch willkommen zur ersten Kalendergeschichte des Jahres 2022.

Hmm… schwer zu sagen, was hier los ist.
Mittwoch, 10. April 2013 gegen 13 Uhr. Es ist grau und kalt. Eigentlich sehr passend zu meiner Stimmung. Der Blick schweift über eine kleine Landstraße  in die Ferne. Ein wuchtiger – Burg-artiger – Kirchturm und einige Wegweiser; kahle Bäume und sanfte Hügel. Und die sehr markante Tafel im Vordergrund.
Ich bin im früheren Grenzgebiet der beiden deutschen Staaten unterwegs; blicke von der niedersächsischen Seite nach Thüringen; bin am westlichen Rand des Eichsfeldes.
Es ist eine Reise auf den Spuren meiner eigenen Geschichte – hier eng mit der jüngeren deutschen Geschichte verwoben.

Der Tag startet frisch und nieselig. Es ist dies die erste Tour mit meinem neuerworbenen Hilleberg-Zelt – eine Tour ins Blaue. Ohne richtiges Ziel fahre ich am Vortag los und lande schließlich auf einem Campingplatz am Helme-Stausee bei Kelbra. Bin gerade noch so in Thüringen, während Sachsen-Anhalt in Rufweite ist. Der Platz atmet den schweren Charme aus DDR und früh-neunziger Modernisierung auf eigene Faust. Dünne Spanplatten-Türen mit billigsten Plastik-Türgriffen eröffnen den Zugang zu den Sanitäranlangen. Sie machen dieses so typische dumpfe Geräusch beim schließen. Fertigbaracken-Bau kennzeichnet die festen Gebäude des Platzes – DDR pur. Ich finde es irgendwie abstoßend und doch faszinierend. Es ist so bekannt und doch fremd. Ich meine, dass ich hier in den 80-er Jahren mal gewesen bin; vielleicht deshalb die Vertrautheit.
Nach dem Zeltabbau verlasse ich den Platz und werfe noch einen letzten Blick zurück:

Kelbra – Campingplatz

So grau ist es wirklich. Und so passend.
Auf eigenen Spuren wandelnd erklimme ich den Kyffhäuser. Schnee begrüßt mich auf dem Parkplatz unterhalb des wuchtigen Denkmals.

Kyffhäuser mit Schnee

Ein kurzer Fotostopp muss genügen. Es ist mir einfach zu kalt. Brrrr…..!
Die folgende Abfahrt schildere ich in meinem Reisebericht von damals so:
„Von früheren Besuchen hatte ich die Straße nach Kelbra als sehr kurvenreich in Erinnerung. Oh ja. 36 Richtungswechsel auf 4,5 Kilometer.“
Diese Straße hat mich schon als kleines Kind fasziniert, war es doch damals mein erster Kontakt mit einem „richtigen“ Gebirge – mit kurvenreichen Straßen. Für Motorradfahrer ist es ein Paradies, wenn auch sehr gefährlich. Mir scheint auch, dass die Straße an vielen Stellen abgesichert worden ist um sie etwas zu entschärfen.
Vom thüringischen Kyffhäuser mache ich eine sehr kurzen Abstecher nach Sachsen-Anhalt – Kelbra, Berga, fertig. Ab hier habe ich Erinnerungen unter den Rädern. Wie oft sind wir in den 80-er und 90-er Jahren die B80 durch die Goldene Aue gefahren, von Halle-Peißen kommend nach Westen, um Verwandte zu besuchen. Zu einer Zeit, in der man kaum an eine Autobahn südlich des Harzes gedacht hätte. Im Jahr 2013 ist die Autobahn A38 da und die alte B80 zu Landesstraßen heruntergestuft. Kaum Verkehr, trotz breiter, gut ausgebauter, Strecke. Mein Fahrtziel ist nun Nordhausen, was mich dann auch bald mit Sprühregen begrüßt. Kurz darauf wechsle ich dann doch auf die Autobahn und fahre weiter nach Westen. Immer entlang der alten B80. Die Gegend wird hügeliger. Ich bin im Eichsfeld angekommen; passiere dabei Worbis und Leinefelde. Die Ortsnamen klingen so vertraut. Mit letzterem konnte ich lange wenig anfangen. Bis mir bewusst wurde, dass Hannover an der Leine liegt und diese im Eichsfeld – in Leinefelde – entspringt, um irgendwann die niedersächsische Landeshauptstadt zu erreichen; ein grenzüberschreitender Fluss.
In Heiligenstadt verlasse ich die Autobahn und begebe mich ins Tal der Leine. Früher war das für mich einfach nur ein Tal. Und Heiligenstadt war für mich die große Stadt bei unseren Verwandten. Jetzt, nach über 20 Jahren, wirkt alles so klein und beschaulich. Die Stadt ist Heilbad und das merke ich an manchen mondänen und noblen Ecken. Heiligenstadt hat sich seit damals herausgeputzt. Außer des Namens habe ich kaum Erinnerungen; keine Orte, keine Plätze. „Heiligenstadt“ klang für mich wichtig und besonders. Das tut es noch immer. Ich folge dem kleinen Flüsschen nach Westen und erreiche bald Uder. Die Sonne zeigt sich zaghaft. In dem Dorf lege ich einen kurzen Versorgungsstopp ein. Hier hatte damals also unsere Verwandte gearbeitet. Ich krame in meinem Gedächtnis nach Bildern von früher und versuche sie mit dem Jetzt in Verbindung zu bringen. Garnicht so einfach. Einiges erscheint mir vertraut – vor allem, dass sich der Ort an die Hänge südlich der Leine schmiegt. Auch das Gebäude in dem unsere Verwandte damals gearbeitet hat scheint noch zu existieren. So langsam bekomme ich einen Kloß im Hals; schwanke zwischen dem kleinen Jungen von damals und dem Ich im Hier und Jetzt. Neu ist das Gewerbegebiet westlich des Ortes – entstanden in der Vor-Autobahn-Zeit.
Das Tal wird enger, die Straße erstaunlicherweise nicht. Ich stutze. Gut, das war mal eine sehr wichtige Bundesstraße – bis die Autobahn kam. Es geht entlang der Leine in vielen Kurven gen Westen. Links und rechts größere Hügel. Der Kloß wird größer. Bald werde ich das ehemalige Sperrgebiet erreichen. Ich suche. Irgendwo muss doch der Sperrposten gewesen sein – diese kleine Hütte mit Schranke. Nichts zu finden. Alle Spuren sind getilgt. Die Vergangenheit ist verschwunden. Dieser Posten mit den grimmigen NVA-Grenzsoldaten, die sich lange Zeit ließen um Papiere zu kontrollieren und uns erst dann passieren ließen. Wir konnten immer durch, hatten wir doch alle Dokumente und den Passierschein. Wir konnten unsere Verwandte im 5-Kilometer-Grenzgebiet besuchen. Das ging so bis Ende 1989. Plötzlich war freie Fahrt und die Schranke dauerhaft offen.
Arenshausen ist nicht mehr weit. Arenshausen, einer der vielen „Hausen“-Orte in Sachsen-Anhalt und Thüringen. Als Kind brannte sie sich mir ein. Gerade all die Ortschaften an der B80 – Sangerhausen, Nordhausen, Arenshausen. Dazu Sondershausen am Kyffhäuser und Mühlhausen/Thüringen. Ganz schön viele Häuser in der Gegend, wie auch die  vielen ge-rode-ten Dörfer und Städtchen.
In Arenshausen angekommen will ich in den Ort und das frühere Wohnhaus unserer Verwandten suchen. Daraus wird leider nichts, da die Ortsdurchfahrt gesperrt ist. Stattdessen fahre ich weiter nach Hohengandern, wo früher unmittelbar die Grenze entlangführte. Ich suche nach dem Feld über das wir Ende 1989/Anfang 1990 mit dem Trabi über die so halb offene Grenze gehoppelt sind. Im Nachhinein ein sehr gewagtes Unterfangen, war der Bereich doch damals noch in Teilen vermint. Findige DDR-Bürger hatten aber wohl einen Minen-freien Pfad ausfindig gemacht und so konnten wir damals nach Göttingen – in den Westen! – fahren. Leider werde ich nicht fündig. Auch sonst ist vom damaligen Grenzstreifen nichts mehr übrig außer Erinnerungen und Geschichten. Ich irre ein wenig umher.
„Von Niedersachsen nochmal zurück nach Thüringen. Kurz vor Kirchgandern dann doch eine Grenz-Tafel. Vage lässt sich noch etwas erkennen. Nur wieder keine Haltemöglichkeit. Eine kleine Dorfrundfahrt später sehe ich meine Chance in einer versteckten Feld-Einfahrt an dieser Tafel. Fotostopp.“
Das ist das Bild für den Januar. Ein Stück Erinnerung an die vielen Besuche bei unserer Verwandten. Diese sind auch auf der folgenden Aufnahme festgehalten:

Wegweiser an der ehemaligen Grenze

Alles Wichtige ist hier zu sehen. Zur kleinen braunen Hinweistafel komme ich gleich noch.
Es ist Mittag und etwas wärmer als die Stunden zuvor. Ich halte inne und schaue mich um. Die frühere Grenzbaracke ist versperrt und verfällt langsam. Sie wird wohl der Natur übergeben.

Verfallende Grenzbaracke

Irgendwie ist alles Grau; verschwommen und verblasst. Ich lasse die Gegend auf mich wirken und gehe in mich.
Es ist schon komisch, dass ich im Jahr 2013 munter zwischen den Bundesländern umher springen kann, als ob nie was gewesen wäre. Als ob die DDR mit ihrer stark befestigten und bewachten Grenze nie existiert hätte. Sie hat es aber gegeben und das weiß ich aus eigener Erfahrung. Die Erfahrung von Dresden ans scheinbare Ende der Welt zu fahren; in eine Gegend zu fahren, in der es nicht weiter nach Westen geht, nur nach Osten. Eine Gegend heute mitten in Deutschland gelegen. Eine Gegend die sich seit vielen Jahren eher zu den Großstädten Kassel und Göttingen orientiert und weniger nach Heiligenstadt oder zum weit entfernten Erfurt.
In der Wendezeit waren wir mal in Witzenhausen auf hessischer Seite, davor waren die Ausflüge nach Heiligenstadt, Leinefelde oder Dingelstädt das Größte.
Die Erinnerung fühlt sich so eng an, so einschnürend. Während einiger Zugfahrten durch das Eichsfeld spürte ich das deutlich in mir.
Unsere Verwandte hat Arenshausen längst verlassen, während ich nun da bin; nur zu Besuch in besonderen Erlebnissen meiner Kindheit. Damals konnte ich das ganze Ausmaß nicht be-greifen. Es war mir als kleiner Junge einfach zu hoch, dass ich mitten in der deutschen Zeitgeschichte unterwegs war.

Bald verließ ich das Eichsfeld und fuhr weiter nach Norden um ein paar Zelt-Tage in der Lüneburger Heide zu verbringen.

Ein weiterer Ort der unbedingt dazugehört ist die Burgruine Hanstein im nahen Bornhagen. Unsere Verwandte verkaufte dort über mehrere Jahre Dinge und war wohl auch Gästeführerin. Kaum zwei Monate nach meiner Grenz-Erfahrung besuchte ich diesen Ort auf einer weiteren Reise durch Deutschland.

Burgruine Hanstein

Sie thront so majestätisch und brachial über dem Dorf. Eine Zeugin der Zeit.
Von den nahegelegenen Hängen wagte ich einen Blick über das hügelige Eichsfeld. Diese Gegend hat sich so stark in mein Gedächtnis gebrannt.

Hügeliges Eichsfeld

Eine sehr reiche Gegend mitten in Deutschland. Eine Gegend, die es zu erkunden gilt und die einen Besuch wert ist. Und sie ist so geschichtsträchtig.

Noch eine weitere kleine Anekdote:
1986  besuchten wir unsere Verwandte im Grenzgebiet. Auf fast 200 Kilometern umwaberte uns damals dichter Nebel, während wir zu Dritt im Trabi gen Westen fuhren. Er lichtete sich erst, als wir Heiligenstadt schon hinter uns gelassen hatten und die Nacht bereits hereingebrochen war. Ein besonderes und unvergessliches Abenteuer meiner Kindheit.

Es ist der 24.12.2021 – mein 40. Geburtstag – als ich diese Zeilen schreibe. Diese runde Zahl möchte ich mit Rückblicken, in Form der Texte zu den Kalendermotiven, füllen. Der Januar steht dafür sinnbildlich. Die folgenden spielen sich dann beiderseits der ehemaligen innerdeutschen Grenze ab.

Hier sind die technischen Daten zum Bild:
Datum & Uhrzeit: 10.04.2013, 12:48 Uhr
Kamera: Nikon D5000
Objektiv: Nikkor 18-105 VR
Brennweite: 75mm
Blende: f/8
Verschlusszeit: 1/250s
ISO-Wert: 200

Im Februar geht es hoch hinaus und wird eisig.

Bis dahin,

— SnusTux|René M. – 01/01-2022 (24.12.2021)

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