Und schon wieder so eine lange Reise. Diesmal gut 1.400 Kilometer nach Südwesten. Wir stehen an einem kleinen See und blicken in die Ferne:
Es ist der 11. Juli 2011, gegen Mittag. Das Blau des kleinen, “Mellerst Rotsjön” genannten Sees und das Blau der Wolken. Das Grün der Bäume und das Grau der kahlen, weiß geprenkelten, Berge dahinter. Davor eine kleine Insel. Ich halte inne, komme ins schwärmen. Ich bin an diesem Ort nun schon zum vierten Mal. An diesem beruhigenden Ort in der historischen schwedischen Provinz Härjedalen, nicht weit von der Grenze zur Provinz Jämtland entfernt. Und doch schon irgendwie in Jämtland – im gleichnamigen, schwedischen Bezirk (län). 22 Tage vorher war ich bereits hier gewesen und hatte viele Morgenstunden mit Fotografieren zugebracht. Und auch im Sommer 2009 und 2010 hatte ich dieses besondere Fleckchen Erde besucht.
Ich stehe einfach stumm da und lasse mir den leichten Wind im die Nase wehen; beobachte den Zug der Wolken. Und stolpere immer wieder über diesen kleinen Stein, den scheinbar jemand ins Wasser geworfen hat und auf dem kleine Sträucher wachsen.
Nun will ich Euch ja in kurzen Texten etwas über die Bilder meines Kalenders erzählen. Das mit dem “kurz” wird in diesem Fall schwierig. Ich sehe dieses Bild und die Gedanken kreisen. Es entsteht eine Geschichte in der Geschichte.
Jahrelang hatte ich das Motiv – eine Aufnahme von 2010 – als Poster an meiner Badtür. Ich habe Stundenlang darauf geblickt.
Und bei diesem Anblick, dem Nachdenken darüber, kommt mir immer wieder dieser eine Begriff in den Sinn. Dieser Begriff, mit dem ich soviel verbinde: “Fjäll”
Das Kalender-Bild zeigt eine Landschaft im schwedischen Fjäll. Es ist der Einstieg in eine Reihe von Bildern dieses Kalenders, die ich dieser wunderbaren Landschaft widme.
Und plötzlich bin ich der kleine Junge, der in der fünften oder sechsten Klasse in der Schule sitzt. Es ist Geografieunterricht. Ich habe ein Lehrbuch vor mir. Darin eine Schnittskizze der skandinavischen Landschaften von West nach Ost. Links die tiefen norwegischen Fjorde mit denen ich etwas verbinden kann. Rechts daneben Berge. Aber die sind nicht als “Berge” bezeichnet, sondern mit dem Begriff “Fjäll”. Ein Begriff, mit dem ich nichts anfangen kann und der mich doch irgendwie fasziniert. Selbst knappe 30 Jahre später erinnere ich mich an diese kleine Episode. Sie hat sich mir eingebrannt.
Viele Jahre hatte ich mit der Gebirgskette Skandinaviens wenig zu tun. Mein erster Besuch war im Sommer 2003. Damals fuhr ich von Kiruna nach Narvik und weiter Richtung Tromsø. Ich fuhr durch die karge Landschaft Nordschwedens. Rechts der riesige See Torneträsk, links die kahlen, nur spärlich bewachsenen Berge – zum greifen nahe.
Erst weitere sechs Jahre später entdeckte ich diese Landschaft für mich und seitdem lässt sie mich nicht los. Der schiere Klang des Wortes “Fjäll” lässt mich wohlig erschauern und mich in Gedanken versinken. Dieser besondere Begriff, so weich im Klang und doch so fremd.
In Vorbereitung dieses Artikels habe ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis eine kleine Umfrage zu diesem Begriff gemacht. Ich habe gefragt, was die Menschen mit “Fjäll” verbinden. Und ich habe Antworten erhalten. Diese möchte ich Euch nicht vorenthalten und danke allen, die daran teilgenommen haben.
Ich habe insgesamt 16 Rückmeldungen erhalten, 7 davon von Menschen, die einen Bezug zu Skandinavien haben oder selbst dort leben. Das zeigt sich sehr deutlich in den Antworten.
Diese reichten von “keine Ahnung” über “Klingt für mich nach Herbst so wie im englischen Fall” zu “Fell, dickes Fell haben, aushalten müssen”.
Und dann ist da diese Outdoor-Marke aus Örnsköldsvik in Nordschweden, mit ihrem sehr bekannten – manche bezeichnen ihn als “hässlich” – Rucksack und dem stilisierten Fuchs als Logo. Fjällräven. Diese Antwort erhielt ich viermal, allesamt aus Deutschland. Und doch wurde selbst hier von einigen der Bezug zum eigentlichen Thema hergestellt. “Vielleicht was mit Fuchs oder Berg oder Fuchsbau?” lautete eine dieser Antworten. Die Richtung stimmt. Eine Antwort war besonders ausführlich und nahm mich auf eine Gedankenreise mit, die dem Ziel sehr nahe kommt. Diese lautet: “So’n Rucksack, der Fjällräven Kanken heißt? Könnte auch ein Ikea-Möbel sein; Fjord ist das mit den Flüssen; Schweden? Norwegen? Hört sich ‘n bisschen nach Natur an, wahrscheinlich, weil es mich an nen Fluss erinnert; Vielleicht auch Wasserfall” Eine heiße Spur.
Aber es gab dann doch diejenigen, die eine Verbindung zum Fjäll haben, und seien es nur “Mücken”, schlicht die “Bergwelt” oder etwas ausführlicher “Fjäll= eine Gebürgslandschaft Skandinavien”. Und eine besondere Verbindung dazu haben meine vier Freunde in Göteborg (Stort tack till er att ni bidrog med era tankar och historier!). Deren Antworten lauten im Original wie folgt (eine Übersetzung liefere ich mit):
“Jag tänker på att dricka vatten från en porlande bäck, men också på sjungande fjällfåglar, som t.ex. blåhaken (“fjällens näktergal”). [Ich denke an Wasser, das ich aus rauschenden Bächen trinke, aber auch an singende Fjäll-Vögel, wie das Blaukehlchen – die Nachtigall des Fjälls.]“
“Jag tänker på torkat ägg, vandringskängor och obefintlig mobiltäckning [Ich denke an getrocknete Eier, Wanderstiefel und nichtvorhandene Mobilfunkabdeckung.]“
“Jag tänker på snö och skidåkning . Kanske inte så konstigt då vi har semestrat så de flesta vintrar i min barndom [Ich denke an Schnee und Skifahren. Wohl wenig überraschend, da dort in meiner Kindheit die meisten Winter verbracht habe.]“
“Så här års tänker jag på höga berg täckta av snö, en tystnad som sträcker sig långt och mycket varma kläder. [Um diese Jahreszeit denke ich an hohe, schneebedeckte Berge, eine weite Stille und sehr warme Kleidung]“
Es ist faszinierend gerade diese Antworten aus erster Hand zu hören. Sie machen Lust auf mehr Fjäll. Vielleicht kann ich Euch, die Ihr bisher zuerst an den Rucksack mit dem Fuchs gedacht habt, zeigen, dass da mehr ist – mehr als eine Marke. Es ist eine atemberaubende und vielfältige Landschaft.
Und für die Sprachinteressierten: Der Begriff “Fjäll” ist mit dem deutschen “Fels” verwandt und hat nichts mit dem “Fell” gemein. Er geht auf das altnordische “fjall” oder “fell” mit Bedeutung “Gebirge” zurück.
An diesem sonnigen Montag bin ich auf der Fahrt von Åre nach Särna. Gute 360 Kilometer Wegstrecke nach Süden durch das Gebirge. Am selben kleinen See entsteht auch dieses Übersichtsbild, das für mich Sinnbild ist, wenn ich an Skandinavien – an Schweden – denke:
Es vereint alles, das mich an diesem Land – abseits der Städte – fasziniert und in seinen Bann zieht. Wasser, Berge, Wälder & Wolken.
Aber es sind halt gerade die kahlen Berge, in diesem Fall das bis zu 1.500 Meter hohe Lunndörrsfjäll, die es mir angetan haben:
Berge, die von Gletschern rund geschliffen worden sind und majestätisch über die umliegende Landschaft aufragen. Berge, die auf dieser Aufnahme zum Greifen nahe sind. Eine Landschaft die, würde man jemanden fragen, durchaus in Kanada verortet werden könnte.
Doch diese Reise bot noch mehr, nämlich Schwedens höchstgelegene, öffentliche Straße über die Flatruet-Hochebene; nur 40 Kilometer vom Väster-Rotsjön entfernt. Wobei “Straße” hier sehr weit gefasst ist. Asfalt sucht man vergebens. Es gibt nur Schotter und der kann von sehr unterschiedlicher Beschaffenheit sein. Bei einer Höhe von bis zu 975 Metern und einer sehr dünn besiedelten Gegend aber kein Wunder. Zudem liegt hier doch meist Schnee.
Ich bin die Strecke vier Mal gefahren, einmal davon war es sehr ungemütlich und ging kaum mit mehr als Schrittgeschwindigkeit voran. Und doch lohnt es sich immer wieder, zu sehen, wie ein Wald aus spärlichen Birken – ähnlich denen vom Vormonat – langsam niedrigen Sträuchern und großen Wiesen weicht, je höher man kommt. Eine Landschaft, die in Mitteleuropa so fremd erscheint und doch so nahe ist.
3 Bilder möchte ich euch vom Flatruet zeigen. Zuerst diese beiden Landschaftsmotive:
Eine Gegend zum Wandern. Eine Gegend für weite Blicke. Und eine Gegend in der die Stromkabel über der Straße hängen, muss doch das kleine Örtchen Ljungdalen mit Elektrizität versorgt werden.
Und eine Gegend mit kleinen, wuselnden, Tieren. (Mit den großen Rentieren beschäftige ich mich in einer anderen Kalendergeschichte.)
Wer weiß, um was es sich hier handelt, kann mir gern Bescheid geben. Meine Recherchen liefen ins Leere. Ich tippe aber auf eine Art Erdhörnchen.
Es ist so unglaublich schön hier. So ganz anders als in der Heimat. Trotz Hochsommer sind nur wenige Touristen anzutreffen und es bleibt Zeit, alle Eindrücke in Ruhe in mich aufzusaugen.
Vom Flatruet nach Särna waren es dann noch etwa 180 Fjäll-Kilometer durch Härjedalen und das nördliche Dalarna.
Hier die technischen Daten zum Bild:
Datum & Uhrzeit: 11.07.2011, 12:52 Uhr
Kamera: Nikon D90
Objektiv: Tamron 70-300 VC
Brennweite: 155mm
Blende: f/8
Verschlusszeit: 1/1000s
ISO-Wert: 200
Die Nachbearbeitung war sehr dezent und bezog sich auch hier hauptsächlich auf Farben und Kontraste.
Im April bleiben wir im Fjäll und ich zeige Euch die angekündigten, großen, Tiere.
Bis dahin,
— SnusTux|René M. – 01/03-2021