Zurück ans Wasser, zurück nach Vorpommern. Gut 510 Kilometer liegen zwischen dem „Pott“ und diesem Bild.
Samstagabend am 28. Juni 2014, kurz vor 21 Uhr. Windstill liegt eine Turmlandschaft aus Bootsmasten vor mir; ein bisschen Grün, dazu ein roter Backsteinbau in der Ferne. Und ganz viel Wasser, in welchem sich die wenig konturierten Wolken spiegeln. Stille.
Willkommen in Greifswald. Willkommen in der kleinen großen Stadt im äußersten Nordosten Deutschlands. Seit der April-Geschichte sind nur gut zwei Tage vergangen. Vor allem der vergangene Freitag ist sehr geschichtsträchtig, besuche ich doch den Mammutbau in Prora – wahrgewordener Größenwahn nationalsozialistischer Politik, zusehends verfallend und hinter hohen Bäumen verschwindend. An einen freien Blick auf die Ostsee ist kaum mehr zu denken. Teile wurden mittlerweile als edle Wohnanlage für die Gutbetuchten aus dem nahem Binz oder zu Ferienwohnungen umgestaltet; Vieles ist dem Verfall preisgegeben oder wurde nur wenig saniert und dient der Kultur. Ich verbringe mehrere Stunden in der Anlage und besuche unter anderem das Dokumentationszentrum. Bleibende Eindrücke, wie schon in Nürnberg.
Und in dieser Geschichte spanne ich den Bogen zwischen den beiden totalitären deutschen Staaten des 20. Jahrhunderts. Dazu gleich mehr.
Zuerst war für mich lange unklar, wohin mich diese Reise im weiteren Verlauf führen würde. Gerade nach den intensiven Erlebnissen dieses Freitags war mein Kopf leer und völlig ideenlos. Das besserte sich nur langsam. Ich packte meine Planung damals in diese Worte:
„Nun begann die Planungsphase für die nächsten Tage. Leere in meinem Kopf diesbezüglich. Das Wetter soll eher schlechter werden, was Wanderpläne erst einmal auf Eis legt. Währenddessen hatte ich bei einer guten Freundin angefragt, ob sich den die Hansestadt Greifswald lohnen würde. Das warten auf Antwort ließ einen groben Plan reifen: Weiter nach Erfurt und von da erst einmal zurück gen Heidelberg um in der letzten Woche vielleicht noch eine kleinere Tour nachzuschieben, und bis dahin lange Aufgeschobenes zu erledigen. Stand noch die Etappenfrage.
In 2 Tagen sollte die Gegend um Erfurt zu erreichen sein. Okej. Hatte mich damit angefreundet als die Meldung meiner Freundin kam. Sie bombardierte mich regelrecht mit Informationen und Tipps in HGW. Vielen Dank an Dich!
Also dorthin. Recherchierte wegen einer Jugendherberge in der Hansestadt und wurde fündig. Aus einem leeren Kopf war eine sehr gute Idee für den morgigen Tag geworden. Es geht nach Greifswald. Wohin mich die Tour anschließen führen wird ist , bis auf Erfurt, weiterhin unklar.“
Auch für das Erlebte bis zu Erreichen meines neuen Quartiers in der Hansestadt lasse ich mein Vergangenheits-Ich sprechen:
„Die letzte Nacht war sehr anstrengend. Um mich herum krabbelte es weshalb ich schwerlich einschlafen konnte. Irgendwie ging es dann doch. Gegen 8 wurde ich wach. Wartete noch bis ein Teil meiner ‚Gesellschaft‘ ihre Zelte gepackt hatte und begann dann meinen Ameisen-frei-Plan. Alles abschütteln und raus ins Auto. Auch das Innenzelt musste dran glauben; hing es aus und verstaute es, nach einer Ausschüttel-Aktion einzeln, wohl wissend, dass noch immer ein paar Krabbler unterwegs waren. Kurz nach 10 war alles gepackt und ich verließ den Platz. Just in dem Moment setzte leichter Regen ein – Glück gehabt! […]
Nun ab zum Geheimtipp – der Rügenfähre in Glewitz. Bis dorthin bekam ich nochmal das volle Rügen-Fahr-Programm geliefert: Meist entspanntes Fahren bei Tempo 80, dann aber immer diese, hinter Bäumen versteckten Tafeln; Ob Ortseingänge oder Wegweiser, egal. Besonders heftig wurde es in Garz; der Wegweiser zur Fähre wurde erst 20 Meter vor der Angst sichtbar, gut das hier noch mein Navi funktionierte. Kurz vor Glewitz ging es nur noch langsam und ruckhaft voran. Den Grund dafür entdeckte ich bald – kassiert wurde an einem Schalter anstatt auf der Fähre. Schiff Nummer eins fuhr ohne mich. So konnte ich noch gut 20 Minuten auf Rügen zubringen. Der Wartebereich war sehr gut gefüllt, kam mir etwas fremd vor zwischen all den älteren Leuten aus dem Osten. Kurz vor 12 war ich auf dem Schiff. Netterweise zeigte sich auf See die Sonne. Das Festland war erreicht, mein Navi quittierte kurz vor Greifswald/HGW den Dienst. So irrte ich etwas verloren umher, nur eine grobe Richtung kennend. Beschilderung: Fehlanzeige, bzw. kaum zu sehen, wie ich später feststellen musste. Hatte nach ein paar Minuten die Schnauze voll und hielt um die Zicke zu reaktivieren. Sie versah ihren Dienst für die paar hundert Meter bis zu Herberge. Nunja, die Tage dieses Telefons bei mir sind bald gezählt. So etwas unzuverlässiges kann ich nicht gebrauchen! Okej. Kurz vor eins war ich an meiner Unterkunft. Alles typisch Jugndherberge und für ein Einzelzimmer nur mit Waschbecken nichtmal günstig, aber ich musste nicht erneut zwischen kleinen Krabblern nächtigen. Diese kamen während der Fahrt gelegentlich hervorgekrochen, auch im Zimmer sah ich noch eine.“
Zeit für weitere Planungen und ein kleines Nickerchen – das dann doch etwas länger wird. Gegen drei wecken mich starkes Regengeprassel und Donnergrollen aus meinen Träumen. Ich döse weiter. Der Abend bricht langsam an und ich will noch in die Stadt. Statt der angedachten Fuß-Runde nehme ich meinen fahrbaren Untersatz für das Stück in die Altstadt. Diese erkunde ich nun per Pedes. Beginnend am Südende geht es an einigen Uni-Gebäuden vorbei zur Langen Straße. Recht schnell sind meine Gedanken voller Fragezeichen ob des merkwürdigen Architektur-Mixes. Alte Häuserfronten sind von grau-monotonen Plattenbauten durchbrochen. Wie auch hier an der Ecke zur Rotgerberstraße:
Dazu gesellen sich wenige moderne Glaspaläste der letzen 30 Jahre. Insgesamt dominieren geduckte Bauten in hellen Farben und dem Beton-Grau der DDR-Platte. Zum Markt nimmt der Anteil älterer Bauten zu. Und doch fallen mir ein paar Backsteinfassaden ins Auge – stumme Zeugen längst vergangener Geschäftigkeit.
Auf so kleinem Raum präsentiert sich die Altstadt als Ort großer Gegensätze. Ich schwanke zwischen Angewidert-sein und Faszination. Ersteres, da die Stadt nur wenig lebendig und eher kühl und grau wirkt, was vielleicht auch dem Wetter geschuldet ist; Faszination ob der vielen Kontraste.
Am Markt geht ein erster Blick zum majestätischen Dom St. Nikolai – gerahmt von Treppengiebeln unterschiedlicher Höhe und Farbe, die im weichen Gegenlicht besonders zur Geltung kommen.
Am selben Standort entsteht kurz darauf auch dieser Blick über den Markt nach Nordosten. Auch hier gibt es einen dominierenden Kirchturm – den der wuchtigen Marienkirche. Und auch hier zeigt sich die Verschiedenheit der greifswalder Architektur.
Besonders sticht der moderne Bau zwischen den zwei roten Treppengiebeln an der Ostseite hervor. Auch sonst ist die Dachlandschaft sehr unterschiedlich.
Der Marienkirche und dem vorgelagerten, geduckten, Haus widme ich noch ein eigenes Bild:
Ein Musterbeispiel der Backsteingotik. Durch die weiße Farbe treten die Spitzbögen noch stärker hervor und stellen in ihrer Leichtigkeit einen Kontrast zum gedrungenen Gesamtbau dar.
Einen näheren Blick verdient auch das Haus Am Markt 11, das prunkvoll den Reichtum greifswalder Bürger im Spätmittelalter zeigt und Motive der Marienkirche aufnimmt:
Hier überwiegt eindeutig die Faszination für Archtiektur und Geschichte der greifswalder Altstadt. Und als Meister der Brüche erkunde ich alsbald den Norden der Altstadt. Entlang der Friedrich-Loeffler-Straße dominiert Plattenbau in grobkieseligem Fassaden-Grau.
Ganz uninformiert bin ich auf meinem Rundgang nicht. Greifswald war zur Umgestaltung zur „sozialistischen Musterstadt“ auserkoren. Von größeren Zerstörungen des Krieges war die Stadt verschont geblieben. Aber was nicht ist kann ja noch werden – dachte sich wohl manch politisch Verantwortlicher in der DDR. Und so sorgten 40 Jahre samt unterlassener Erhaltungsmaßnahmen zum Verfall vieler historischer Häuser und schließlich zu denen Abriss. Es soll bis zu 40 Prozent der alten Bausubstanz verschwunden sein. Dazu habe ich jetzt, beim Schreiben dieser Geschichte, einen sehr eindringlichen Text aus dem August 1989 gefunden: „In Greifswald wird die Zerstörung nachgeholt“
Zum Glück für die übrig gebliebene Bausubstanz kaum kurze darauf die politische Wende und sie konnte weitgehend gerettet und wiederhergestellt werden.
Und damit ist der eingangs erwähnte Bogen zur Architektur der 1930-er Jahre gespannt. Geschichte und der Zeugen können so spannend sein…
Nach meinem ausgiebigen Spaziergang erkunde ich die Stadt mit dem Auto.
Zuerst geht es an den Ryck, einen kleinen Fluss, der Greifswald im Norden einrahmt. Auf der Drehbrücke entsteht das Kalenderbild. Ich halte für einen Moment inne und genieße die Stille.
Weiter geht es gen Wieck. Unterwegs entdecke ich zwischen Bäumen versteckt eine Bismarcksäule im weit verbreiteten Entwurf „Götterdämmerung“, hier in kleinerer Ausführung – größere Säulen desselben Prinzips finden sich u.a. in Heidelberg und in Dresden-Räcknitz.
In Wieck suche ich vergeblich einen Parkplatz und fahre bald zu meiner Herberge zurück.
Tags darauf ist es immer noch Grau. Ich wage mich erneut nach Wieck und finde ein Plätzchen für mein Gefährt. Und so kann ich das technische Meisterwerk der Holzklappbrücke festhalten.
Mit gemischten Gefühlen verlasse ich Greifswald gen Südwesten. Einmal quer durch die Republik – oder das, was wir bis 1990 als solche bezeichnet haben. Dazu bedarf es eines eigenen Textes. Die Oktober-Geschichte endet hiermit.
Hier sind die technischen Daten zum Bild:
Datum & Uhrzeit: 28.06.2014, 20:48 Uhr
Kamera: Nikon D5000
Objektiv: sigma 17-70 OS
Brennweite: 32mm
Blende: f/4
Verschlusszeit: 1/250s
ISO-Wert: 200
Im November wird es dunkel und wir überqueren ein letztes Mal die frühere innerdeutsche Grenze – zum siebten Mal.
Bis dahin,
— SnusTux|René M. – 01/10-2022 (01.10.2022)