Schnee und Eis finden wir am Ziel dieser 300-Kilometer-Tour nach Südwesten. Ein letztes Mal geht es ins schwedische Fjäll.

Kalt bläst der Wind auf gut 900 Metern Höhe an diesem Abend des 25. Juni 2011.
Mein Blick schweift weit über die karge Landschaft; über kleine Büsche und Schneefelder. In der Ferne das Fjäll Sipmehke. Die Grenze zu Norwegen zum Greifen nah. Die S-förmige Straße passt nicht so recht hinein. Über der Szenerie sind dichte Wolken. Einsamkeit. Durchschnaufen. Ruhe. Es hat schon etwas erhabenes, so über die kahle Landschaft zu blicken, weitab jeglicher Zivilisation. Und es fühlt sich nicht so an, als ob es Ende Juni ist. Es ist kalt und sehr durchwachsen. Willkommen auf dem höchsten Punkt dieses Kalenders.

Was hat mich hier hoch getrieben? Eine Straße durch die Wildnis – 360 Kilometer von Strömsund nach Vilhelmina. Ich bin auf Vildmarksvägen. Und das schon den dritten Tag. Von Süden hatte ich mich durch Norwegen in die Nähe des Dorfes Gäddede vorgewagt – dazu mehr im Juni. Nach einem Besuch des Hällingsåfallet und einer kleinen Irrfahrt durch die Gegend tags zuvor, treibt es mich nun hoch hinaus. Die “Nacht” verbringe ich in einer kleinen unscheinbaren Hütte ohne Strom und Warmwasser am Ankarvattnet. Alles etwas unheimlich.

Typisches Midsommarwetter erwartet mich bei meiner Bergetappe. Wie so oft glänzt die Sonne mit ihrer Abwesenheit. Einige Abstecher fallen wortwörtlich ins Wasser, da mir nasse Wiesen den Weg versperren. An ein paar Stromschnellen halte ich aber doch. Langsam werden die Bäume kleiner und krüppeliger, verschwinden bald ganz. Auf 750 Metern ist es nur noch kahl und doch grün. Ein Schlagbaum erinnert mich bald daran, dass die Straße im langen Winter gesperrt ist.
Ich nehme mir sehr viel Zeit für Pausen; halte desöfteren am Straßenrand. Meine damaligen Gedanken dazu:

“Um mich herum ein Mix aus Grau und Weiß. Schnee direkt neben der Strecke. Die hohen Fjällmassive tragen ein recht geschlossenes weißes Kleid. Hinter einer kleinen Brücke pausiere ich etwas länger. Ich will die Gegend erschnuppern und in Bildern festhalten. In einiger Entfernung gen Westen beobachte ich erstmals bewusst zwei Dinge. Zum einen das Fjäll Sipmehke, das direkt auf der schwedisch-norwegischen Grenze liegt und ungewöhnlich aussieht. Es erinnert mich in seiner Form an die griechische Halbinsel Chalkidiki, bedingt durch die drei Fjällrücken mit zwei dazwischen liegenden Tälern. Das andere „Ding“ ist eine ganz bestimmte Vogelart, die der Falkenraubmöwen. Ein Exemplar davon sitzt einsam auf einem Stein und scheint die Umgebung zu beobachten.”

Einsame Falkenraubmöwe auf einem Stein
Sipmehke unter Wolken

Bald darauf erreiche ich den Scheitelpunkt der Strecke. Es fühlt sich…
…irgendwie unspektakulär an; unwirklich. Das Schild mit der Höhenangabe steht einfach so mitten im Nichts. Warum ausgerechnet hier?

Vildmarksvägen - Scheitelpunkt

Wenig später verlasse ich Jämtland und wechsle nach Västerbotten – Norrland. Die asfaltierte Straße schlängelt sich zwischen den Bergen hindurch.

“Noch ein paar Kilometer später erreiche ich eine ausgedehnte Straßen- und Seen-Ansammlung mitten in der Pampa.”

Ich bin nicht allein. Ein paar Wohnmobile stehen auf einem kleinen Weg etwas abseits der Straße an einem der Seen. Das will ich mir genauer anschauen und so starte ich eine kleine Runde zu Fuß. Plötzlich entdecke ich das:

Überreste

Teile eines Schildes. Das wirkt doch komplett deplatziert. Was hat es damit auf sich? Etwas weiter komme ich an einen Stein, den eine Metalltafel ziert.

Gedenkstein zur Grubenlandschaft

“Zwischen 1976 – 1989 wurden durch die Firma Boliden etwa 7 mio Tonnen Erz gefördert und angereichert. Dieses enthielt Kupfer, Zink, Gold und Silber.
Nach Beendigung des Bergbaus wurde die Gegend renaturiert und das Absetzbecken mit einem Damm versehen.”

Langsam dämmert mir was. Ich bin in einem alten Erztagebau unterwegs. Das Schild gehörte mal dazu. Und die sehr gut ausgebaute Straße ebenso. Warum sonst würde man diese Gegend erschließen wollen. Und in den Seen lagern Überreste der Erzverarbeitung.
Alsbald ziehe ich weiter und fahre in das alte Bergarbeiterdorf Klimpfjäll, auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Fündig werde ich nicht. Weiter nach Südosten  fahren will ich auch nicht. Langsam reift der Gedanke, die “Nacht” auf dem kahlen Berg zu verbringen und so kehre ich um. Es soll dies das zweite Mal auf dieser Tour werden, dass ich draußen übernachte.
“Wie auf Flatruet lasse ich das Zelt lieber im Kofferraum und richte mich auf meinem Fahrersitz ein.”
Eine weitere “Überraschung” erwartet mich:
“Es ist kurz nach 4h nachmittags. Zeit ein paar Bilder zu ma… der Kamerabildschirm hat sich verabschiedet! Ich versuche ihn noch irgendwie zum leuchten zu bekommen, bleibe aber erfolglos. Bildkontrolle und Menüeinstellungen hejdå! Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder mit der bisherigen Strategie (Manueller Modus, fester Iso, 3-er Belichtungsreihe(=BKT) bei geschätzten Belichtungseinstellungen) oder auf Nummer sicher zu gehen und mit Blendenvorwahl und 3-er BKT, bei variablem Iso, zu arbeiten. Übermütig wie ich bin, bleibe ich bei Variante Nummer eins. Die Bildkontrolle werde ich aber immer erst am Laptop machen können, welcher leider nur am Stromnetz funktioniert. Es wird waghalsig. Zur Not (für Panoramen und Schnappschüsse) bleibt mir noch die Tizzy [meine Kompaktkamera, die ich als Ersatz mithabe; Panasonic DMC-TZ10]. Ich fotografiere also ab jetzt, Samstag, 25.06.2011, 17:00h, bis auf weiteres wieder wie zu Analogzeiten. Ergebnis offen.”

Das ausgerechnet hier oben, nach kaum einem halben Jahr mit meiner ersten Spiegelreflexkamera. Ich bin immer noch Anfänger und vielleicht auch deshalb übermütig und ziemlich leichtsinnig. Und doch entstehen mit meiner Taktik viele schöne Aufnahmen (und durch die Belichtungsreihen eine Menge Datenmüll). Alle Aufnahmen, die Ihr im Februar, März, September und Dezember seht, plus die noch folgenden Bilder im November, sind “blind” fotografiert. Bald nach dieser Tour und dem Displaytausch wechsle ich zu meiner noch immer genutzten Arbeitsweise mit Blendenvorwahl und Halbautomatik. Es ist so viel angenehmer.

Ich habe viel Zeit. Diese nutze ich u.a. für ein Telefonat. Das Mobilfunknetz ist hier oben perfekt ausgebaut und besser als an manchen dichter bevölkerten Stellen Deutschlands. Gegen Abend verlasse ich meine metallene Unterkunft und wandere über einen kleinen, markierten, Pfad auf einen der Berge um mich herum. So erreiche ich den Standort für das Novembermotiv dieses Kalender.
Der Tagebau wirkt von hier oben riesig, mein Nachtquartier dagegen winzig – und ziemlich verloren.

Stekenjokksgruva mit Nachtquartier

Ich will eigentlich noch etwas weiter, doch ein Schmelzwasserflüsschen versperrt meinen Weg.

Schmelzwasser

Die Zeit verfliegt während ich alles in mich aufsauge; die Straße, den Tagebau, die Berge, die Wolken, die über mir hinwegfliegen. Ab und zu nieselt es etwas…

Langsam geht es zurück zum Auto und ich richte mich ein; und erlebe noch einen weiteren amüsanten und interessanten Augenblick an diesem ereignisreichen Tag:

“Im Halbschlaf beobachte ich direkt neben mir ein merkwürdiges Schauspiel: Am Hang des Sees, unsichtbar für mich, scheint ein kleiner Vogel sein Nest zu haben. Eine Raubmöwe greift dieses in regelmäßigen Abständen an. Der Vogel unbekannter Art, schnellt aus seinem Nest, folgt der Möwe ein paar Meter, dreht bei und fliegt zurück. Das wiederholt sich den ganzen Abend. Dem zusehend, und die Wolken innerlich verfluchend, entschlummere ich.”

Die Nacht ist erstaunlich erholsam.
Am nächsten Morgen fahre ich nochmal kurz zum Scheitelpunkt. Und begegne wärenddessen Rentieren, die seelenruhig über die Straße spazieren – Vildmarksvägen mach seinem Namen zum Abschied alle Ehre.

Vildmarksvägen

Ich genieße die letzten Momente in dieser besonderen Gegend ausgiebig. Bald fahre ich via Klimpfjäll nach Südosten und verlasse damit die karge Landschaft.  Ein besonderer Höhepunkt…

Weitere Informationen zu Vildmarksvägen findet Ihr auf deren Seite (auf Schwedisch oder englisch).

Hier die technischen Daten zum Bild:
Datum & Uhrzeit: 25.06.2011, 20:38 Uhr
Kamera: Nikon D90
Objektiv: Nikkor 18-105 VR
Brennweite: 75mm
Blende: f/8
Verschlusszeit: 1/60s
ISO-Wert: 200
Es war schwierig, diesen besonderen Farbmix zur Geltung zu bringen. Ich habe es versucht.

Zum Abschluss entführe ich Euch auf die raue Barentssee. Es wird ein würdiger Abschluss dieses Kalenders.

Bis dahin,

— SnusTux|René M. – 01/11-2021 (14/10-2021)

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