Erneut geht es nach Schweden. Wieder 1.000 Kilometer. Und wieder an’s Wasser.
Wir sind beim Titelbild dieses Kalenders angekommen; und bei der Fortsetzung eines früheren Bildes – vom April. Knappe drei Stunden sind an diesem sonnig-frischen 18. September 2012 vergangen.
Stille. Ich bin in Arjeplog. Leichtes Wellengekrissel auf dem Hornavan, einem der großen Fjällseen im Norden des Landes. Im Hintergrund der majestätische Galtispuoda, gesäumt von Nadelbäumen und auf dem Gipfel kahl. Darauf zwei große Funkmasten. Bewölkter Himmel. Und dieses weiße Motorboot, das im Vordergrund liegt – bereit zu einer neuen Fahrt über die Seen.
Ein so typisches und doch einzigartiges Fjällbild knapp südlich des Polarkreises. Im März habe ich ja bereits von dieser besonderen Gegend geschwärmt. Sie zog mich damals in den Bann und tut es noch immer. Auch auf den Tag genau 9 Jahre nachdem ich dieses bild gemacht habe. Es ist schon ein ziemlicher Zufall, das ich diesen Text just am 18. September 2021 schreibe. Die Erinnerungen brechen sich Bahn. Ich gehe auf eine innere Zeitreise, zurück zu dieser besonderen Tour durch Skandinavien. Es ist bisher die letzte Reise, die mich nördlich des Polarkreises geführt hat. Sehnsucht.
Doch der Reihe nach: Im April habe ich ja schon ein bisschen vom Tag berichtet. Der Tipp im vandrarhem war Gold wert. Auf der Hinfahrt lässt sich eine große Warntafel am Wegesrand kaum übersehen:
Eine Teststrecke mitten in der Abgeschiedenheit Nordschwedens, von Anfang November bis Mitte April für den Individualverkehr gesperrt. Was ist denn hier los? Wer braucht das und warum?
Eben weil es so schön abgeschieden ist und die Winter hier oben ziemlich kalt werden können. Ideale Testbedingungen für Fahrzeuge. Minus 40 Grad sind durchaus drin. Bedingungen, die in Mitteleuropa und anderen Gegenden der Welt nur selten herrschen.
Ich befahre den Berg alsbald. Nach ersten Rentierbildern schaue ich mich mit unterschiedlichen Brennweiten um. Am Fuß des Galtispuoda sind geometrische Straßen in den Wald gebaut.
Infrastruktur zum Quälen von Autos. Jetzt im Spätsommer ist es aber ziemlich ruhig in der Gegend. Stattdessen gibt es genügend Möglichkeiten zum Übernachten und ein – für ein knapp 2.000-Seelen-Dorf sehr umfangreiches – Angebot an Läden. Ich stelle mir vor, wie es in den dunklen Wintermonaten in Arjeplog zugeht. Testfahrer und Ingenieure aus vielen Ländern, vor allem von den großen deutschen Automobilbauern. Dazu die unvermeidlichen Fotografen, die Blicke auf fast fertige Fahrzeuge erhaschen wollen, deren Äußeres durch Tarnfolien nur zu erahnen ist. Eine kleine Welt für sich, geschäftig, gestresst, lebhaft.
Meinen Bericht vom Vortag, beginne ich wie folgt – um das Autotest-Paradies wissend:
“Da bin ich wieder mit den Nachrichten vom Tage. Dieses Mal aus dem Erlkönig-Paradies Arjeplog.”
Das Land der Erlkönige, wie getarnte Testfahrzeuge auch genannt werden, ist eine so besondere Gegend – mitten in Europa und doch gefühlt am Ende der Welt.
Das Portrait mit Rentieren, das ich Euch im April gezeigt habe, gibt es auch mit nur Landschaft und mehr Sonne. Es entsteht ganz zu Beginn meiner zwei Galtispuoda-Stunden.
Ein kleiner Trampelpfad schlängelt sich über den Berg und das Weideland der Rentiere. Dahinter der riesige Hornavan. Überall kleinere und größere – bewachsene und kahle – Felsen und Inseln im Wasser. Ein Schärengarten weit ab jeglicher Meeresküste. Überreste der letzten Eiszeit, als die Gegend unter einem massiven Eispanzer lag. Das wird mir erst jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen so richtig bewusst. Der Gletscher, der die Berge rundgeschliffen und Täler ausgehobelt hat. Der das Landschaftsbild Skandinaviens so sehr geprägt hat und dessen Spuren sich überall in Schweden finden. Unterbewusst banne ich die Vielseitigkeit dieser Gegend auf die Chips meiner beiden Kameras. Im Westen ist dem Berg eine lange schmale Inselzunge vorgelagert.
Darüber liegt am Hang des Gipfels die Silver Lodge, ein Hotel mit Blick auf die Seen und gerade im Winter ziemlich begehrt.
Nach Westen und mit langer Brennweite fotografiert bekomme ich das abwechslungsreiche Spiel aus Wasser noch eindringlicher zur Geltung gebracht.
In der Bildmitte sind die Ausläufer Arjeplogs zu sehen – ein Gewerbegebiet und das, vom Wald versteckte, Testgelände von Daimler-Benz. Dahinter erstreckt sich Fjäll-umsäumt der zweite große See Uddjaure. Ebenso wie der Hornavan ist er Teil des Flussystems vom Skellefte-Älv und gehört damit zu den großen Flüssen Nordschwedens. Hornavan erstreckt sich weit nach Nordwesten und erreicht die Ausläufer des Hochgebirges. Auf dem folgenden Bild ist das sehr gut zu erkennen.
Mit dem starken Tele und 300 Millimetern Brennweite erreiche ich hier eine ungeahnte Dichte. Von der kahlen Wiese schweift der Blick über den See und weitere Hügelketten zu den Schnee-bedeckten und knapp 1.600 Meter hohen Gipfeln nahe der Grenze zu Norwegen. Auf diese gut 80 Kilometer Entfernung verändert sich die Landschaft dramatisch. Noch gestern bin ich in eben dieser Gegend unterwegs gewesen und habe die lange Silberstraße – Silvervägen – befahren. 120 Kilometer durch das Nichts und das bei Nebel und kaum mehr als Null Grad. Ein Erlebnis der besonderen Art ist es, bei diesem Wetter auf gut 700 Metern Meereshöhe im Kalfjäll Pause zu machen und dabei fast weggeweht zu werden oder im Nebel zu ertrinken.
Ich genieße die Zeit auf dem Berg mit all ihren Facetten. Kann mich kaum satt sehen an allem; fühle mich wie der König der Welt und bin doch ganz bei mir; lebe im Moment. Gänsehaut auch jetzt noch. Die Zeit verfliegt so schnell.
Ich begebe mich auf die Heimfahrt und lasse diese durch das “Zentrum” Arjeplogs führen. Ich will ans Wasser!
Und ich erreiche es schließlich. Ich lasse meine Seele ein wenig baumeln und nehme all die neuen Eindrücke in mich auf. Dabei entdecke ich dieses weiße Boot. Boot-See-Berg-Wolken – ein nahezu perfektes Motiv, das mit meiner Zweitkamera entsteht! So perfekt, dass ich es 8 Jahre später als Titelbild für diesen Kalender auswähle und das Euch im Oktober begleiten wird.
Es entsteht noch ein weiteres Motiv mit kürzerer Brennweite, das den Blick etwas weiter nach Norden über den Hornavan schweifen lässt und auf mich weniger ruhig wirkt:
Und damit geht eine weitere Kalendergeschichte langsam zuende.
Es ist so schwer, all die Eindrücke in Worte zu fassen, weshalb mein Fokus dieses Mal noch stärker auf den Bildern liegt. Und es ist erstaunlich, welche Gedankengänge sich in der Rückschau auftun – welche neuen Gedanken dabei entstehen. Vielleicht ist es auch diese starke innere Sehnsucht dorthin zurück zu kehren…
Hier die technischen Daten zum Bild:
Datum & Uhrzeit: 18.09.2012, 15:01 Uhr
Kamera: Nikon D5000
Objektiv: Nikkor 18-105 VR
Brennweite: 62mm
Blende: f/5.3
Verschlusszeit: 1/2000s
ISO-Wert: 200
Farben und (Mikro-)kontraste sind auch hier der Hauptbestandteil der Nachbearbeitung.
Auch im November bleiben wir im Fjäll. Ich entführe Euch zum Höhepunkt des Kalenders auf gut 900 Meter Meereshöhe. Es geht in die Wildnis, die eine Überraschung birgt.
Bis dahin,
— SnusTux|René M. – 01/10-2021 (18/09-2021)