Nach der langen Reise vom Februar begeben wir uns erneut auf eine 2.000-Kilometer-Fahrt. Und wir bleiben am Meer. Das Kattegatt tauschen wir gegen die raue Barentssee.
Es ist Teil zwei der Varanger-Trilogie. Dienstag, der 05. Juli 2011, etwa zwei Stunden vor dem Februar-Bild und 70 Kilometer davon entfernt. Blau strahlt die See, grau die kahlen Felsen dahinter. Nur ein paar grĂŒne Einsprengsel sorgen fĂŒr etwas Auflockerung, dazu die Struktur der Steinwand, die von warmer Sommer-Sonne erleuchtet wird; im Vordergrund einige unscharfe gelbe Flecken im Stein. Bei genauerer Betrachtung fĂ€llt ein kleines Tunnelportal auf, das geduckt im Fels liegt, die dahin fĂŒhrende StraĂe ist nur zu erahnen.
Es fĂŒhlt sich alles so unwirklich an â damals wie heute. Sehnsucht. Ruhe.
Eine schiere Gedankenexplosion macht sich in meinem Kopf breit wĂ€hrend ich mir diese Zeit â diesen Tag â zurĂŒck ins GedĂ€chtnis hole. Ich habe diesen Ort tatsĂ€chlich besucht; habe ihn vor 10 Jahren allein mit dem Auto erreicht; habe die Luft genossen, die Gegend in mich aufgesaugt. Habe mich mal wieder selbst ĂŒbertroffen.
Das “Ende der Welt” mag eine abgedroschene Phrase sein â hier trifft sie zu. Ich bin auf der Halbinsel Veines nahe dem Weiler Kongsfjord in der Kommune BerlevĂ„g. Nur ein Zwischenstopp auf meiner Tagesetappe vom Hauptort nach Kirkenes. Aber was fĂŒr einer! Und warum und wieso das Ganze?
15 Stunden vorher in einem kleinen Zimmer in BerlevÄg:
Beobachten, hoffen und bangen. Meine Aufzeichnungen von damals:
“So gegen 23.45h ist es dann soweit. Mit der Kameratasche bepackt geht es nach drauĂen. Es regnet leicht, aber zwischen den Wolken blinzeln ein paar Sonnenstrahlen hindurch. Mitternachtssonne!
Der Wind sorgt fĂŒr klamme Finger, der Regen fĂŒr beschlagene und betropfte GlĂ€ser. Vor allem bei der Kitlinse wirkt sich das nachteilig aus. Aber egal. Das Licht ist sehr speziell und schön. Die Stimmung [wieder] sehr surreal. Mit meiner SchĂ€tz-Methode beginne ich die mitternĂ€chtlichen Aufnahmen. Zwischen den recht dicken dunklen Wolken lugt ab und an die Sonne hervor und taucht BerlevĂ„g in ein warmes Licht. Ăber dem gesamten Szenario fliegen ein paar Möwen umher. StĂ€ndig die GlĂ€ser putzend, genieĂe ich mein erstes Mitternachtssonnen-Erlebnis.”
Es gibt dafĂŒr kaum Worte, deshalb lasse ich Euch mit diesen beiden Bildern allein.
Nur das Folgende möchte ich noch loswerden:
Es mag viele Mitternachtssonnen-Erlebnisse geben. Gerade dieses â an diesem Ort ist sehr besonders. Hinter der Mole ist das groĂe Nichts, nur noch die kalte und stĂŒrmische Barentssee zwischen mir und dem Nordpol. Die dramatischen Wolken verstĂ€rken das Ganze. Beim Schreiben dieser Zeilen ĂŒberkommt mich GĂ€nsehaut; ein wohliges GefĂŒhl von Weite.
…
Der Morgen danach:
Ich verweile noch ein wenig an diesem geschichtstrĂ€chtigen Ort und besuche das Hafenmuseum von BerlevĂ„g. Neben vielen AusstellungsstĂŒcken, die sich mit der langen Fischereigeschichte des Dorfes beschĂ€ftigen, gibt es auch einen Bereich, der mir kalte Schauer ĂŒber den RĂŒcken laufen lĂ€sst. BerlevĂ„g wurde im Winter 1944/45 von den abziehenden Wehrmachtssoldaten vollstĂ€ndig niedergebrannt. Erstmals in Norwegen wurde hier die “Taktik der verbrannten Erde” umgesetzt, und das â typisch deutsch â sehr grĂŒndlich! Vom Ort war danach kaum noch etwas ĂŒbrig und es dauerte bis in die 1960-er Jahre, ehe alles wieder aufgebaut ist. Innerlich schĂ€ume ich vor Zorn auf meine Landsleute und bin gleichzeitig sehr traurig. Warum nur sind Menschen zu solchen Taten imstande?
Zum weiteren Museumsbesuch notiere ich das Folgende:
“Die Zeit des Wiederaufbaus ist vor allem durch das Entstehen zweier groĂer Hafenmolen geprĂ€gt. Speziell fĂŒr BerlevĂ„g ist die Verwendung besonderer âBausteineâ fĂŒr diese beiden Ă€uĂeren Molen. Diese sind aus Tetrapoden, Betonklötzen mit 4 Spitzen, aufgebaut, welche auch als Logotyp fĂŒr das Museum verwendet werden. Ein lĂ€ngerer Film zeigt den Bau von Revnes- und Svartoksmole mittels Tetrapoden sehr anschaulich. In einem kleineren Schuppen befindet sich ein Ausschiffungsboot, das bis in die 1970-er Jahre beim Waren- und Passagiertransport von und zu den Hurtigruten-Schiffen verwendet wurde.”
Ich muss mir das mal genauer anschauen und mache noch einen kleinen Spaziergang durch den Hafen. An der Revnesmole tummeln sich Möwen und nutzen die Tetrapoden als BrutplÀtze.
Die frĂŒheren Hafenanlagen wurden regelmĂ€Ăig durch die raue See zerstört, weshalb man sich fĂŒr diese merkwĂŒrdigen Betonklötze als Wellenbrecher entschied. Seit ĂŒber 50 Jahren halten sie nun dem starken Wellengang der Barentssee stand und schĂŒtzen den Hafen BerlevĂ„gs.
Ăber allem ist das Gekreische der weiĂ-grauen SeerĂ€uber. Sie haben es sich an einer hölzernen Lagerhalle gemĂŒtlich gemacht.
Gegen Mittag ist es Zeit, Abschied von BerlevĂ„g zu nehmen. Langsam fahre ich die KĂŒstenstraĂe zurĂŒck gen Osten. Am Leuchtturm KjĂžlnĂŠs erhasche ich einen letzten, verschwommenen, Blick auf die HĂ€useransammlung im Nirgendwo:
Die Sonne ist recht krĂ€ftig und heizt den Boden auf, was zu Luftunruhe fĂŒhrt und vor allem die HĂ€user in einem Flimmern untergehen lĂ€sst. Und doch passt das so gut. Die karge Landschaft ist so prĂ€sent mit ihren wuchtigen Felsen. Sie lĂ€sst die Zeugen menschlicher Zivilisation zu Fremdkörpern werden. Und doch leben hier oben etwa 1.000 Menschen, deren HauptbeschĂ€ftigung in den reichen FischgrĂŒnden des kalten Meeres zu finden ist. Eben jene Barentssee ist heute vergleichsweise ruhig. Ein paar niedrige Wellen finden den Weg an die KĂŒste und sorgen fĂŒr neblige Brandung.
Es lĂ€sst sich nur erahnen, wie rau und unberechenbar das Meer hier oben sein kann. Ein Erlebnis wĂ€re es allemal an einem dunklen Wintertag. Und Dunkel passt durchaus, steigt doch hier oben die Sonne zwischen Mitte November und Mitte Januar nicht ĂŒber den Horizont. Stattdessen gibt es im Dezember fĂŒr etwa 4 Stunden DĂ€mmerung, bevor es wieder finster wird. Auch das muss ziemlich unwirklich und fĂŒr einen MitteleuropĂ€er nur schwer vorstellbar sein. Erleben möchte ich es unbedingt einmal.
Entlang der schmalen KĂŒstenstraĂe fahre ich nach Kongsfjord und möchte Euch an der anschlieĂenden Episode teilhaben lassen:
“Ein recht markantes weiĂes Haus, mit einem Oldtimer davor, lĂ€dt zum verweilen ein…”
“… In dem Landhandel gibt es frischgebackene Waffeln. WĂ€hrend ich darauf warte schaue ich mich in dem kuriosen HĂ€uschen um. Hier findet sich allerhand Plunder: Buddelschiffe, Wanduhren, Kleidung und anderes. Vieles davon hat schon einige Jahre auf dem Buckel. Nach vielleicht 10 Minuten ist meine kleine StĂ€rkung fertig. WĂ€hrend ich mich an eine Holzbank setze werde ich ob meines guten Norwegisch gelobt. Das hört man gern. Kurze Zeit spĂ€ter betritt ein Herr mit knuffigem Gesicht den Laden und setzt sich zu mir. Er ist vielleicht Mitte 30 und scheint aus dem Ort zu kommen. Ein lĂ€ngeres GesprĂ€ch beginnt, dass sich vor allem um die Sprache dreht. Irgendwann, auf die Frage nach dem Krieg, bringt er einen denkwĂŒrdigen Satz. Er meint, dass der Krieg das beste gewesen sei, was dieser Region passieren konnte. Einfach wegen der vielen deutschen Touristen. Waren es frĂŒher noch die Veteranen, so besuchen mittlerweile Kinder und Enkel die Varanger-Halbinsel um die SchauplĂ€tze zu erkunden, an denen die VĂ€ter und GroĂvĂ€ter stationiert waren. Hmm. Sehr rational gedacht. So gegen 2h verlasse ich den Landhandel, die Besitzerin bedankt sich auf Deutsch bei mir.”
Im Nachgang lĂ€sst mich der Satz meines GesprĂ€chspartners auch ein wenig ratlos zurĂŒck. FĂŒr meinen Besuch passt er nicht, da ich bis dato nicht wusste, was zwischen 1940-45 hier ablief und es erst im Museum erfahre. Ich bin hier ob der Landschaft. Und damit werde ich bestimmt nicht allein sein. Dass mich die Geschichte einholen wĂŒrde, damit habe ich nicht gerechnet. Gleichzeitig finde ich es sehr wichtig, dass das Gewesene im GedĂ€chtnis bleibt und nicht in Vergessenheit gerĂ€t.
Positiv ist die offene und freundliche Stimmung der Menschen gegenĂŒber mir, als Besucher aus Deutschland. Das gegenseitige Aufeinanderzugehen und Interesse ist dabei ein wichtiger Bestandteil. In meinem Fall wird es durch die fehlende Sprachbarriere sehr erleichtert; spreche ich doch sehr bewusst weder Englisch noch Deutsch mit den Beiden, sondern eher “Skandinavisch” â einen Mix aus Schwedisch und Norwegisch, der viele TĂŒren öffnet und Distanzen abbaut. Diese Erfahrung sammle ich wĂ€hrend meiner vielen Reisen nach Schweden und Norwegen sehr oft.
Ich fĂŒhle mich wohl damit, Beobachter zu sein; unbelastet an die Situation herangehen zu können. Und doch habe ich dieses historische VerstĂ€ndnis fĂŒr das Gewesene, das die Menschen an der nordnorwegischen KĂŒste bis heute prĂ€gt. Mit diesem Text möchte ich Euch diese Lebenswelt etwas nĂ€her bringen.
Die Zeit verfliegt.
“Ich mache einen kleinen Schwenk auf die Halbinsel Veines. Zuerst halte ich an einem Parkplatz. Dieser bietet allerdings kaum Aussicht. Deshalb beschlieĂe ich ĂŒber einen Feldweg bergauf zu hoppeln. Ein wirklicher Feldweg! In der Mitte Gras, links und rechts kleinere und gröĂere Steine. Langsames vorankommen. Nach ein paar hundert Metern ist Schluss. Das reicht mir schon. Von diesem, etwas erhöhten, Standort bietet sich eine schöne Rundumsicht auf Kongsfjord, die StraĂe nach BerlevĂ„g und das Meer. Die Sonne strahlt ĂŒber einen tiefblauen Himmel. Fotostopp. Dieser ist gegen halb 3 zuende. Langsam hoppele ich zur HauptstraĂe zurĂŒck.”
Und hier entsteht nun das Bild, das Ihr im September bestaunen könnt. Es fasst fĂŒr mich ziemlich perfekt das Miteinander aus Natur und Mensch hier oben zusammen. Trotz der kargen und abweisenden Landschaft, haben sich hier Menschen niedergelassen und das schon sehr lange. UrsprĂŒnglich war dies, wie sehr viele Bereiche Nordnorwegens, Siedlungsgebiet der Sami. Sie betreiben auch heute noch ihre Rentierzucht auf den Heiden der Gegend.
Ein Zeugnis des Krieges ist auch auf Veines zu finden: eine alte KĂŒstenbefestigung der der Wehrmacht, die langsam verfĂ€llt. Einen Besuch derselben mache ich allerdings nicht. Einen umfangreichen Artikel hat Tor Edgar Olsen dazu auf Norwegisch verfasst. Stattdessen wartet noch eine lange Etappe nach Kirkenes auf mich.
Damit schlieĂe ich nun an den Februar an, in den folgenden Worten festgehalten:
“Es geht wieder bergauf ins FjĂ€ll. Ich lasse mir viel Zeit und lege unterwegs einige Stopps ein. So auch am höchsten Punkt [auf 326 Metern Höhe]. Es gibt zwar keinen Parkplatz, weshalb ich nur kurz am StraĂenrand halte und die Tafel verewige. Weiterfahrt ins grĂŒne Tal nach Austertana und zur schnurgeraden KrĂŒppelbirken-Allee. An der kleinen Kirche folgt der nĂ€chste Halt.”
Den letzten Teil der Varanger-Trilogie prÀsentiere ich Euch am Jahresende.
Hier die technischen Daten zum Bild:
Datum & Uhrzeit: 05.07.2011, 14:24 Uhr
Kamera: Nikon D90
Objektiv: Tamron 70-300 VC
Brennweite: 300mm
Blende: f/8
Verschlusszeit: 1/1000s
ISO-Wert: 200
AuĂer Farb- und KontrastverstĂ€rkung ist die Nachbearbeitung minimal.
Im Oktober sind wir erneut in Schweden und zurĂŒck am Galtispuoda bei Arjeplog. Ich möchte Euch dort die Geschichte rund um das Titelbild dieses Kalenders erzĂ€hlen.
Bis dahin,
â SnusTux|RenĂ© M. â 01/09-2021